Publikationen

Übersicht:
Psychosoziale Grundbedürfnisse – Zusammenfassung von Lin Burian
Leserbrief Kinderbetreuung: Was braucht der Mensch?" (Die Presse, 5. März 2007)
Fallbeispiel: "Festhalten und Cranio-Sacrale-Osteopathie bei einem Säugling" von Lin Burian
„Grundlagen der kindlichen Entwicklung – frühkindliche Reflexe“ von Andrea Jaspert und Anja van Velzen
Bewegung und Lernen – Eine Abhandlung über die Bedeutung der Bewegung und der frühkindlichen Reflexe für die kognitive Entwicklung von Rosemarie Haus
Menschliche Entwicklung in Bezug zu den psychosozialen Grundbedürfnissen – Zusammenfassung von Lin Burian
Medizinethik I: Embryonenforschung – Schriftliche Arbeit (Zusammenfassung) von Lin Burian


Psychosoziale Grundbedürfnisse

Zusammenfassung von Lin Burian

Die Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung ist die sichere Bindung eines Kindes an verlässliche und feinfühlige Bezugspersonen. Feinfühliges Verhalten (Attunement) heißt, die Signale des Kindes (des Säuglings) richtig deuten und adäquat handelnd beantworten zu können (z.B. Suche nach Körperkontakt und Nähe, Wärme, Schutz, Geborgenheit; Versorgen, Füttern, Ansprechen, Beruhigen, Tragen; emotionale, mimische und verbale Spiegelung).

Aus der Beziehungserfahrung, versorgt, beruhigt, beachtet und getröstet zu werden, entwickelt sich die Fähigkeit zur Selbstberuhigung, Selbstbeachtung und Selbstfürsorge; aus der Beziehungserfahrung des emotionalen Gehalten- und Verstandenwerdens entsteht die Fähigkeit zu introspektivem, emotionalem Selbstverständnis und der Fähigkeit, Körpererleben mit Emotionen zu verknüpfen.

Das explorative Verhalten des Kindes ist dem Bindungsverhalten (Schutzsuchen) komplementär zugeordnet. Fühlt das Kind sich sicher, wagt es sich von der Bezugsperson weg und will Personen oder Gegenstände in der Umgebung erkunden. Dieses Erkundungsverhalten bildet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Autonomie des Kindes. Die Verinnerlichung der verlässlichen Beziehungserfahrungen macht zunehmend von der realen Anwesenheit der Bezugsperson(en) unabhängiger und es entsteht Raum für selbstständiges, durch den Willen und Neugier motiviertes Handeln. Das durch eigenes Verhalten erfolgreiche Wirken im Sinne bestimmter, persönlicher Ziele führt zu positiven Selbstwirksamkeitserwartungen. Korrespondierend zu den wachsenden Möglichkeiten erlernt das Kind, die Perspektive anderer zu übernehmen bzw. sie zu verstehen.

Werden die Nähe-, Bindungs- und Autonomiebedürfnisse von den Bezugspersonen liebevoll und angemessen unterstützt und anerkennend gespiegelt, entwickelt sich ein gesundes Selbstverständnis (dieses kann es erst geben, wenn sich bereits ein bewußtes Selbst entwickelt hat) bezüglich der eigenen Kompetenz, Liebenswertheit, Würde und Selbstachtung (Fähigkeit zur Selbstwertregulierung – selbst bei Misserfolgen werden Möglichkeiten gefunden, das grundlegend positive Selbstwertgefühl wiederzuerlangen, Unterschiede zwischen eigenen und fremden Wünschen und Wertsetzungen können ohne Gekränktheit wahrgenommen werden).

Nachdem in den vorausgegangenen Reifungsschritten zu anderen sichere Bindungen aufgenommen und auf dieser Grundlage das Autonomie- und Selbstwertsystem entwickelt wurde, ist der nächste basale Schritt der Aufbau des Identitätssystems. Die kognitive, emotionale und soziale Reife ermöglicht es, in einem sozialen Netzwerk der Generationen, Geschlechter und sozialen Zuordnungen eine eindeutige Positionierung der eigenen Person vorzunehmen. Das hat die Eindeutigkeit und Konstanz der eigenen Rolle und damit der Identität zur Folge. Aus dieser Sicherheit heraus weiß das Kind (4. bis 6. Lebensjahr), aus welcher Position heraus es seine Beziehungen gestalten kann (auch das heranwachsende Kind muss sich in ein bereits bestehendes soziales System integrieren). Es entsteht ein realistisches Selbst- und lebendiges Körperbild. Die Fähigkeit, sich in der Welt zu orientieren, nimmt zu.

Nach dem erfolgreichen Durchlaufen der vorangegangenen Entwicklungs- und Reifeschritte kann nun ein Wertesystem und ein spirituelles System aufgebaut werden. Es kommt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Wertewelt und zum Versuch, eigene Wertepositionen zu definieren, die handlungsweisend für das persönliche Engagement und den Einsatz der eigenen Kräfte werden. Über einen persönlichen Zugang zur Spiritualität beginnt die Suche nach Beantwortung der existenziellen Fragen des Lebens in Bezug auf Geburt, Leben, Liebe, Leiden und Tod.
Manche Menschen haben in ihrer religiösen oder spirituellen Sozialisation traumatische Erfahrungen gemacht. Nichtsdestotrotz stellt positiv erfahrene Spiritualität eine große Ressource zur Bewältigung von körperlichen oder seelischen Problemen dar (in den letzten dreißig Jahren wurde in den USA in mehr als 200 Studien nachgewiesen, dass konsequent gläubige Menschen gesünder als Atheisten sind. Sie haben z.B. ein um 40% geringeres Bluthochdruckrisiko und weisen mit doppelter Wahrscheinlichkeit ein starkes Immunsystem auf). Spiritualität drückt den eigenen Lebensstil aus, der von der Erfahrung einer persönlichen Beziehung zu einer außerhalb der eigenen Existenz befindlichen höheren Wirklichkeit geprägt ist. Eine Anbindung an eine höhere Ordnung befähigt uns, starre Regeln durch Mitgefühl und Verantwortung zu lockern, aber auch zu erkennen, wo Mitgefühl und Verständnis ihre Grenzen haben.
Die Sinngebungsfähigkeit bewirkt eine innere Motivation zur sinnvollen Lebensgestaltung. Ein Leben wird als sinnvoll empfunden, wenn man für etwas lebt, an das man glaubt. Die motivationalen Impulse der Sinngebung kommen aus dem Inneren des gesunden Menschen, das Ziel aber ist außerhalb von ihm. Frankl nennt dies „Selbsttranszendenz“. Dieser Begriff kennzeichnet die Überzeugung, dass wir auf dieser Ebene tief in uns die Notwendigkeit verspüren, unsere Kraft und unser Leben an etwas auszurichten, das außerhalb von uns selbst liegt.

Die organismische Antwort auf die Erfüllung der oben beschriebenen Grundbedürfnisse ist subjektiv in Form von Wohlbehagen und Lebenslust erlebbar. Sie sind nicht nur Ziel, sondern auch Ergebnis eines verantwortungsvollen Umgangs mit den eigenen Grundbedürfnissen und deren anderer. Wie bei allen beschriebenen Grundbedürfnissen wirkt sich eine Verletzung oder mangelhafte Befriedigung eines einzelnen Bedürfnisses sowohl auf die weitere Entwicklung des Systems (Entwicklung des Systems der Nähe und Kommunikation - erstes Vierteljahr, Entwicklung des Bindungssystems - erstes bis zweites Lebensjahr, Entwicklung des Autonomiesystems - zweites bis viertes Lebensjahr, Entwicklung des Identitätssystems - viertes bis sechstes Lebensjahr) wie auch auf die Fähigkeit zur Bedürfnisbefriedigung aus, so auch im Bereich der Lebenslust und körperlicher Integrität.

Konklusion:
Jede Beeinträchtigung des frühen Bindungsaufbaues und der sicheren Bindungserfahrung wirkt sich unmittelbar und nachhaltig auf die lebenslange Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung aus (Bowlby sprach von „inner working models“ -Erwartungen, die ein Mensch an die Verlässlichkeit von Bezugspersonen entwickelt hat und auf andere, aktuelle Beziehungen überträgt) und korreliert mit subjektiv erfahrenem Wohlbefinden, sowie mit körperlicher und mentaler Gesundheit (biologisch-neurophysiologische Determinantien, siehe u.a. Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, 2006, menschliches Suchtverhalten und Motivationssysteme, siehe ebenda).
Aus der Befriedigung des Bedürfnisses nach einer stabilen Beziehungsbasis, die Geborgenheit und Sicherheit gewährleistet, erwächst in einem komplexen Entwicklungsprozess die Bereitschaft, Beziehungsverpflichtungen und Beziehungsverantwortung zu übernehmen sowie die Fähigkeit, langfristige Beziehungen einzugehen und soziale Verantwortung zu übernehmen.
Im Erwachsenenleben differenziert und erweitert sich die Kunst, Grundbedürfnisse zu befriedigen, immer mehr. In typischen Schwellensituationen (z.B. Verlassen des Elternhauses, Berufseintritt, Familiengründung) wird diese Fähigkeit modifiziert und an die jeweilige Situation angepasst.
Was aber trotz aller Entwicklungen im Laufe des Lebens konstant erhalten bleibt, ist die Notwendigkeit, die psychosozialen Grundbedürfnisse zu kennen und sie in ihrer Gesamtbilanz zu befriedigen. Gelingt diese Anpassung nicht, werden Grundkonflikte erlebbar, die eine Aufforderung zur angemessenen Bewältigung der jeweiligen Lebenssituation darstellen können. Damit ist die Kenntnis und die Auseinandersetzung mit den psychosozialen Grundbedürfnissen und den daraus entstehenden Konflikten unter unterschiedlichen Lebensbedingungen nicht nur ein lebenslanger Prozess, sondern auch ein hilfreiches Mittel, verantwortlich und gesundheitsfördernd mit sich selbst und anderen umzugehen.
(Zusammenfassung von Lin Burian aus Stauss, 2006, Rudolf, 2004, Grawe, 2004 und der Informationsschrift über die Erfahrungsorientierte Bindungstherapie EBT der Arbeitsgemeinschaft Bindungstherapie ABT, 2005)

Lin Burian
Praxis für Bindungstherapie


Leserbrief "Kinderbetreuung", Die Presse, 5. März 2007:

Was braucht der Mensch?

Mit einigem Erstaunen und Unwohlsein bis hin zum Entsetzen verfolge ich die heimische Berichterstattung zum Thema Kinderbetreuung. Ihnen herzlichen Dank für den Raum, den Sie großzügig für dieses komplexe Thema bereitstellen, ganz im Gegensatz zu so manch anderen heimischen "Qualitätsmedien".

Ihr Aufmacher vom 24.2.07 "Außerfamiliäre Betreuung stört Bindung an primäre Bezugsperson nicht" bietet allerdings eine zu simple Antwort auf eine komplizierte Frage, nämlich die nach den "eigentlichen" Bedürfnissen sowohl des Kindes als auch der Mutter (und des Vaters). So sehr ich den von Ihnen zitierten John Bolwby schätze, der wohl für die Bindungsberatung einen ähnlichen Stellenwert hat wie Freud für die Psychoanalyse, so sehr vermisse ich aktuelle Aussagen von zeitgenössischen Wissenschaftern von Weltruf (die u.a. unser Nachbarland Deutschland in reicher Zahl aufzuweisen hat). Wo lese ich z.B. von Grossmann, Papousek, Rudolf, Stauss, Brisch, wo höre ich von unserer erfahrenen Kinderärztin Marina Markovich?

In einem Land wie unserem, dessen heutige Mütter und Väter die Nachkommen einer Generation sind, die mit Krieg, Mord, Gewalt, Vertreibung, Opfer- und Täterschaft sowie weitreichender Leugnung derselben aufgewachsen ist, ist die Frage nach unserer Beziehungs- und Bindungsfähigkeit alles andere als Luxus. Subjektiv erfahrbare menschliche Qualitäten wie Einmaligkeit der Identität, Selbstbestimmung, Liebesfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und damit die Fähigkeit zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortlichkeit reifen aus Sicht der "Erfahrungsorientierten Bindungsberatung" (ABT e.V.) ausschließlich im Raum gesunder, sicherer Bindungen. Die daraus resultierende Zufriedenheit in "Liebe und Arbeit" (Freud) korreliert mit körperlicher und psychischer Gesundheit. Meines Wissens haben wir es derzeit mit einem Anteil von etwa 40 Prozent unsicher gebundener Erwachsener zu tun. Daher müsste meiner Meinung nach gemeinschaftlich(!) alles daran gesetzt werden, der Kindererziehung und damit dem Lebensraum Familie den ihr gebührenden Platz einzuräumen, sowohl auf gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher wie therapeutischer Ebene (siehe z.B. SAFE-Programm Münchner Kinderzentrum).

Ich vertrete den Standpunkt, dass das Thema Beziehungsfähigkeit und sinnstiftende Prägung von Menschen einen zu hohen Stellenwert hat, als dass wir uns leisten könnten, darüber auf mäßigem Niveau zu polemisieren.

Lin Burian
Praxis für Bindungstherapie


Fallbeispiel (März 2002):

Festhalten und Cranio-Sacrale-Osteopathie
SCHMERZHAFTE VERSPANNUNG und BINDUNGSSTÖRUNG

von Lin Burian

Baby Sandra

Sandra, dreieinhalb Monate alt, ein schlankes, langgliedriges, blondes Mädchen, das mir in unserer ersten Begegnung durch seinen angestrengt wirkenden, verängstigten Blick und starken Speichelfluss auffällt, den die Mutter, Angelika, 33 Jahre alt, ständig mit einem über den Strampelanzug gebundenen Lätzchen aufzufangen sucht. Angelika stellt mir Sandra als Schreibaby vor. Von ihrer Hebamme habe sie von meiner Arbeit als Cranio-Sacral-Therapeutin und prekopsche Festhaltetherapeutin gehört. Sandra sei, seit sie wenige Tage alt war, auffallend unruhig, trinke schlecht, schlafe wenig, schreie anhaltend lang und viel und, wenn sie das lauthalse Weinen und Schreien kurz unterbricht, wimmere und greine sie, oftmals auch in den kurzen und seichten Schlafphasen.

Mutter Angelika

Angelika saß erschöpft wirkend und den Tränen nahe am äußersten Rande des Polstermöbels, das ich ihr zum Platznehmen angeboten hatte. Nach jedem dritten Satz erhob sie sich, um eine kleine Runde mit der quengelnden Sandra zu drehen, die sie einmal in Bauchlage kräftig auf ihrem Arm wiegte und schunkelte, dann wieder rücklings schulterte und den kleinen Windelpo klopfte. Sobald sie sich setzte, wimmerte Sandra erneut los und zappelte unruhig im Arme der Mutter, die ihrem Baby daraufhin abwechselnd Schnuller und Brust anbot.
Angelika wirkte nervös, angespannt und völlig überlastet auf mich. In keiner Minute unseres Gesprächs hielt sie Sandra ruhig und fest in ihren Armen. Wir benötigten eineinhalb Stunden, um die wichtigsten Informationen zu sammeln: Sandra war das erste Kind von Angelika und ihrem Mann. Ein Wunschkind. Beide Elternteile waren beruflich erfolgreich und gut finanziell abgesichert. Die Befruchtung erfolgte auf natürlichem Wege, die Schwangerschaft verlief problemlos und entspannt. Der errechnete Geburtstermin verstrich, zehn Tage danach traten spontan noch keine Wehen auf. Angelika konsultierte täglich ihren Arzt im Krankenhaus, fühlte sich trotz fortgeschrittener Schwangerschaft wohl und auch dem Baby ging es laut Ultraschall und Herztonmessung gut. Dennoch empfahl der behandelnde Arzt am elften Tag nach „dem Termin“, die Entbindung mit künstlichen Wehenmitteln einzuleiten. Angelika und ihr Mann stimmten zu.

Die Geburt

Als ein sofort vaginal verabreichtes Wehenmittel nicht den gewünschten Erfolg zeitigte, wurde Angelika an den “Wehentropf“ angeschlossen. Nun setzten die Wehen „mit einer extremen Power“ (O-Ton Angelika) ein. Wiewohl die Gabe des Wehenmittels alsbald unterbrochen worden war, trat Angelika nach nur zwei Stunden in die Austreibungsphase ein. Angelika: „Alles ging plötzlich unglaublich schnell, ich fühlte mich wie ein Druckkochtopf, der knapp vor der Explosion steht.“ Zwei oder drei Presswehen später war Sandra geboren und schrie bald darauf zum ersten Mal los. Angelika beschreibt sich in dieser Situation als „völlig weggetreten“. Sandra zeigte sich von Beginn an recht unruhig, schlief aber in den ersten Tagen noch viel, nahm auch die Brust der Mutter an, wiewohl sie diese während des Saugens oft ausspuckte und das Köpfchen unruhig hin und her bewegte. Bereits nach wenigen Tagen bemerkte Angelika den seither anhaltenden starken Speichelfluss, Sandras Schlafphasen wurden immer kürzer, die Unruhe, auch beim Trinken, immer größer, das Weinen und Schreien immer lauter und mehr. Angelika nahm Sandra oft halbstündig an die Brust, um das Kind damit zu beruhigen und um sich zu vergewissern, daß Sandra nicht vor Hunger weinte. Selbst Fläschchenkost boten die besorgten Eltern ihrer Sandra an, aber auch davon wurde die Kleine nicht ruhiger. Sandra reagierte empfindlich auf jede Berührung. Zahlreiche medizinische Untersuchungen, eine Ernährungsumstellung der Mutter und zwei Tage und Nächte auf einer Schreiambulanz brachten kein Ergebnis oder Linderung. Angelika (und ihr Mann) taten 24 Stunden pro Tag alles, um ihr Kind zu beruhigen, legten es auf Schaffelle, trugen es stundenlang auf ihren Schultern durch Wohnung und Garten, schaukelten es im Kinderwagen, sangen ihm vor, fuhren es im Auto spazieren, massierten, wickelten und fütterten es. Ohne Erfolg. Müdigkeit und Verzweiflung waren Angelika ins Gesicht geschrieben.

„Das will Sandra nicht!“

Am schlimmsten, so Angelika, sei das Gefühl, ihrer Sandra „keine gute Mutter“ sein zu können, nicht in der Lage zu sein, ihre Tochter zu beruhigen. Auf meine Frage, ob sie bereits versucht hätte, ihre Kleine in ein weiches Tuch gewickelt an sich zu drücken und festzuhalten (ich demonstriere die Haltung), weinte sie: „Das will Sandra nicht! Sie wehrt sich gegen mich! Sie bugsiert mich mit ihren Ärmchen weg und biegt sich nach hinten durch. Sie will mich auch nie anschauen....“
Angelika hatte aus dem „abweisenden“ Verhalten Sandras also geschlossen, dass Sandra sie „nicht wollte“, wertete sich als Mutter ab, empfand sich als „nicht richtig“, spürte vielleicht selbst ihre Liebe zu dem Kind aufgrund der erfolglosen und erschöpfenden Anstrengungungen nur mehr verzweifelt schwach und machte sich insgeheim auch daraus einen Vorwurf. Ein Teufelskreis. Statt mehr nahm Angelika ihre Tochter immer weniger fest in den Arm, hob sie mit zaghaften und zögernden Händen hoch, schaute mit immer müderen und angstvolleren Augen auf das kleine Mädchen, bot ihr ohne Unterlass neue Ablenkungen an, bis ihr außer Ratlosigkeit und Verzagtheit nichts mehr blieb und sie das quengelnde Kind abwechselnd ihrem Mann oder ihrer Mutter überließ, die langfristig genauso wenig ausrichteten wie sie selbst. Sandra blieb unruhig und war untröstlich.

Meine Vermutung war, dass Sandra sich möglicherweise aufgrund einer osteopathischen Läsion stark unwohl fühlen könnte und vielleicht Schmerzen und/oder (Ver)spannungsgefühle hatte. Aus meiner Erfahrung als Cranio-Sacral-Therapeutin weiss ich, daß u.a. „schnelle“ Geburten oftmals zu Fehlstellungen an Schädel, Becken und Wirbelsäule sowie Extremitäten führen können. Schon minimale Beeinträchtigungen (oft nur im Mikrometerbereich) können indirekt auch Gewebe, Organe, Nerven, Muskeln, Sehnen etc. mitbetreffen. Umgekehrt könnte z. B. auch eine muskuläre Verspannung Auslöser sein. Würde diese Annahme zutreffen, wären Angelika und Sandra ein typischer Fall aus meiner Praxis: Eine u.U. ohnehin unsichere Mutter sieht sich mit einem Kind konfrontiert, das auf keine Form der Zuwendung mit Entspannung reagiert, was die (eventuell latente) Unsicherheit der Mutter weiter erhöht und damit verhindert, dass sich das Baby mit seinem (somatischen) Schmerz von seiner primären Bezugsperson angenommen fühlt. Zusätzlich zur Belastung durch anhaltendes körperliches Unwohlsein ist das Baby damit obendrein durch den Verlust seiner „secure base“ in einen Unruhezustand versetzt.

Bevor ich Angelika bitte, ihr Baby auf die Behandlungsliege zu legen, kläre ich sie über die Möglichkeiten und Grenzen einer cranio-sacralen Intervention auf und schließe Erläuterungen über Bindungstheorie und Festhaltetherapie an. Ich führe sie in den Ablauf eines festhaltetherapeutischen Prozesses ein und beobachte dabei ihre Reaktion. Als ich vom Bedürfnis nach Bindung spreche und ausführe, was ein Vermissen desselben bewirkt, zeigt sich Angelika berührt und stimmt nach Erörterung von weiteren Fragen der von mir vorgeschlagenen Vorgehensweise zu: Zuerst cranio-sacrale Behandlung, danach Festhalten im Arm der Mutter. (An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich in Fällen wie hier beschrieben oftmals auf eine längere Vorbereitungsphase der Mutter auf den festhaltetherapeutischen Prozess verzichte, wenn sich mir die Not des Babies und auch der Mutter so groß darstellt, dass eine sofortige Anleitung zum Halten sinnvoll und eventuell notwendig erscheint.)

Sandra wird cranio-sacral behandelt

Angelika legt ihr kleines Kind auf die Liege. Nach einem Lagetest (Symmetriebetrachtung) ersuche ich die Mutter, sich direkt zu ihrem Kinde auf die Behandlungsliege zu setzen, während ich eine segmentale Untersuchung der Wirbelsäule durchführe. (Abprüfen der Beweglichkeit aller Wirbel vom Beckenring bis zum Hinterkopf durch eine Art „sensorisches Abtasten“.)

Danach taste ich Sacum (Kreuzbein), Sphenoid (Keilbein) und Occiput (Hinterhauptschuppe) sowie Diaphragma (Zwerchfell) und Schultergürtel mit den mir zur Verfügung stehenden cranio-sacral-therapeutischen Griffen, um eine mögliche Blockierung/Unterbrechung des Cranialimpulses zu lokalisieren.
Am sogenannten Kopfgelenk (siehe Anhang 1) und den darunter liegenden Wirbeln sowie direkt an der Schädelbasis finde ich Kompression bzw. Hyperextension (cervikal) vor. Auch Membranen (Falx cerebri und Tentorium) sowie Muskeln (tiefliegende Nackenmuskulatur und der m.sternocleidomastoidus) sind aus meiner Sicht betroffen (siehe hiezu Anhang 2).

Sandra weint während der Palpation herzzerreißend. Ich fordere die Mutter auf, sich mit einer erlaubenden Haltung ihrer Tochter zuzuwenden und spreche gemeinsam mit Angelika selbst zum Kind: „Oh, sooo weh tut das, sag uns nur, wie weh es tut, wir hören dich, ja....“, und ich leite die Mutter an, einige Wimmerlaute von Sandra mitfühlend „nachzuahmen“: „ ohhh, ähhh!“ und sich auf ihren Atemrhythmus einzustimmen.

Nun wende ich die (sanfte) cranio-sacral-therapeutische Methode der Läsions-Verstärkung an (Dauer etwa 15 Minuten).
Das heißt, ich „erinnere“ Sandra mit dem zarten Druck meiner Hände und der von mir angewendeten Methode des „Blickes mit dem inneren Auge“ an die Entstehung ihrer Blockierung. Mittels konzentrierter Aufmerksamkeit auf Schädel und Halswirbelsäule, Faszien, Membranen, Intensität und Amplitude des cranialen Impulses sowie des Zustandes von Liquorflüssigkeit in den Ventrikeln und innerhalb des „hydraulischen Membran-Systems“ von Gehirn und Rückenmark erhalte ich, gemäß der cranio-sacralen Methode, Einblicke in Stationen ihres prä-, peri- und postnatalen Zustandes.
Auch die Emotionslage des Kindes in diesen Phasen teilt sich mir - und oft auch der dabeisitzenden Mutter - mit.

In Sandras Fall nehme ich eine Art Erschrecken wahr, das ich als eine mögliche Reaktion auf das für das Ungeborene plötzliche und unerwartete Eintreten der Geburt deute. In meiner Wahrnehmung erlebte Sandra ihre Entbindung als ein „Hinausgeschleudertwerden ins Ungewisse“ unter starkem Druck, ähnlich den Schilderungen der Mutter, explosionsartig und wohl auch schmerzhaft.

(Auch die Mutter dürfte sich von der Geburt überrollt gefühlt haben, immerhin fehlt bei einer künstlichen Einleitung des Geburtsvorganges die spontane und zwischen Mutter und Kind kommunizierte hormonelle Umstellung. Ein Kontaktabriss zwischen Angelika und Sandra hätte, sofern die Bindung vorher vorhanden war, gut vorstellbar an dieser Stelle stattfinden können.)

Zurück zur Behandlung: Noch immer verstärke ich die vorgefundenen Läsionen bei Sandra mit zartem, aber unbeirrbarem Druck, bis der Cranialimpuls des Babies vollständig stillsteht (still-point). Nach einigen Momenten der (cranialen) Regungslosigkeit bemerke ich, wie sich Sandras Köpfchen unter meinen (nur begleitenden, nicht manipulierenden) Händen zu regen beginnt. Während Sandra wie von selbst die Bewegungen nachvollzieht, die sie (so meine Annahme) während des Weges aus dem Geburtskanal durchlebt hat, merke ich, wie auf cranialer Ebene langsam Entspannung eintritt, der Cranialimpuls wird wieder deutlich tastbar, die Kompression löst sich.
Von außen betrachtet ist die von mir konstatierte Entspannung noch nicht wahrnehmbar, Sandra weint und schluchzt. Ich erkläre der Mutter meine Vermutung, dass Sandra gerade eine vollumfängliche Erinnerung an die Geburt durchlebt. Doch ich muss nicht viele Worte verlieren, Angelika ist ganz bei der Sache und nickt zustimmend mit dem Kopf: „Ich sehe es!“

Zum Abschluss positioniere ich meine Handinnenflächen so auf Sandras Köpfchen, als wollte ich den Geburtskanal „nachformen“. Angelika sitzt so, dass Sandras Füßchen sich gegen ihren Oberschenkel stemmen können. Ganz ohne weiteres Zutun windet Sandra sich nun aus dem „Geburtskanal“, als ich Sandras „Antauchen“ verspüre, lasse ich meine Hände langsam entlang des Schultergürtels nach unten gleiten: Sandra ist „geboren“.

„Jetzt bin ich da!“

Nun wickle ich die Kleine sofort in eine Decke und lege sie Angelika in die Arme. Dort weint Sandra nochmals stark auf, die Mutter hält ihr „neugeborenes“ Baby fest, unterstützt das Weinen, hört ihrer kleinen Tochter zu, küsst sie auf Augen und Wangen, lässt ihre eigenen Tränen fließen und sagt: „Jetzt bin ich da!“ Ich sitze daneben und flüstere der Mutter zu, wie wunderbar sie ihr Kind hält, wie schön es sei, dass die kleine Sandra ihrer Mutter nun ihren ganzen Kummer „erzählen“ könne. Angelika weint zwar ebenfalls, hält ihre Tochter aber unbeirrt schützend, bergend und zugewandt im Arm.

Sandra sucht den Blick der Mutter

Nach etwa zehn Minuten beruhigt sich Sandra und sucht mit interessierten Augen und gelöstem Gesichtsausdruck den Blick der Mutter. Diese kann es kaum fassen: „Meine Sandra schaut mich an, zum ersten Mal!“ schluchzt sie glücklich und schaut ihrerseits voll Liebe auf ihre Tochter. So bleiben die beiden nun zwanzig Minuten sitzen, Angelika summt ihrer Kleinen leise Melodien vor, Sandra fallen langsam die Äuglein zu und sie schläft ein. Angelika sitzt gelöst mit ihrer Tochter im Arm im Sessel und strahlt. Nach einem abschließenden Gespräch und Hinweisen für das weitere Vorgehen zu Hause entlasse ich die beiden nach ca. dreieinhalbstündiger Sitzung. Mit zwei Büchern Jirina Prekops unter dem Arm („Hättest Du mich festgehalten“ und „Unruhige Kinder“) verlässt Angelika das Haus.

Als ich die beiden nach sieben Tagen, wie vereinbart, wiedersehe, kommt mir Angelika bereits im Wartezimmer fröhlich entgegen. Sie berichtet mir, dass seit unserem letzten Zusammentreffen eine sofortige und deutliche Entspannung eingetreten sei. Erstens sei Sandra von sich aus weit zufriedener gewesen, und wenn sie geschrien habe, habee sie, Angelika, ihr Schreien ganz anders auffassen und ihr mit Ruhe und Halt begegnen können. Sandra habe sich noch einige Male in der vergangenen Woche - gut festgehalten in ihrem Arm - ausgeweint, sei daraufhin zunehmend fröhlicher, interessierter und vor allem nicht mehr untröstlich. Der starke Speichelfluss sei auffallend zurückgegangen, berichtet Angelika, die Nächte seien ruhiger geworden, auch sie selbst finde nun wieder ausreichend Schlaf. Die Stimmung zu Hause, auch zwischen ihrem Mann und ihr, habe sich verbessert und sie könnten das Zusammensein mit ihrer Tochter nun so richtig genießen.

Bei einer weiteren cranio-sacralen Untersuchung bemerke ich, daß die Verspannungen des Babies sich deutlich verringert hatten. Neben einem weiteren Abtasten der Schädelbasis und der Halswirbelsäule lege ich mein Augenmerk u.a. nun auf die Schädelnähte (Suturen) und auf jene Knochen des Schädels, die jenseits der Schädelbasis zur „Peripherie“ gehören, Os Zycomaticus, Temporale, Maxilla, Mandibula etc., beobachte und stimuliere den Cranialimpuls und „dehne“ die Wirbelsäule durch einen Griff auf Hinterhauptschuppe und Kreuzbein. Im Anschluss hält Angelika ihre Tochter in meinem Beisein nochmals fest. Angelika hat an Sicherheit und Eindeutigkeit gewonnen, sie kann ihre Tochter gut beantworten und hat Freude an der Nähe zu ihrem Kind. Wir wiederholen unser Zusammentreffen noch ein weiteres Mal. Sandra entwickelt sich gut, auch das Stillen macht Mutter und Kind nun Freude. Sandra trinkt ruhig und zügig und in regelmäßigen Abständen. Angelika hat sich in die festhaltetherapeutische Literatur gut eingelesen und erklärt von sich aus, dass sie, sobald ihre Tochter etwas größer sei, gerne mit der ganzen Familie bindungstherapeutisch arbeiten möchte.
Wir beschließen unsere Zusammenarbeit und vereinbaren, dass sie jederzeit bei etwaigen Fragen wieder Kontakt aufnehmen könne.

Anhang 1:
Die cranio-sacrale Impulsregulation (auch cs-Osteopathie, cs-Therapie) ist eine ganzheitliche Methode, die mit Hilfe von subtilen manuellen Techniken die Selbstregulationskraft des Menschen aktiviert.
DieTechnik baut auf dem sogenannten Cranialimpuls, einer gleichförmigen Bewegung, auf, die ihren Ursprung im Gehirn hat, auf die Schädelknochen (Cranium) übertragen und über die Wirbelsäule zum Kreuzbein (Sacrum) fortgeleitet wird.
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt am Knochengerüst (Osteum), indirekt werden jedoch sämtliche andere Gewebe, Organe, Muskeln, Sehnen etc. erfasst. Der Cranialimpuls beeinflusst Wachstum und Funktion der Wirbelsäule, gleichzeitig aber auch die Ausreifung und den Zustand der Organe. Störungen in diesem System (Pathos=Leiden, Krankheit) können sowohl Fehlhaltungen, oft verbunden mit Schmerzen, als auch Krankheiten versursachen. Diese können von trainierten Händen aufgespürt und durch Anregen der Selbstheilungskräfte korrigiert werden.

Anhang 3:
Atlas (der erste Halswirbel, C1) und Axis (der zweite Halswirbel, C2), bilden zusammen mit den umgebenden Weichteilen, wie Muskeln, Nerven, Faszien, Blutgefäßen und der Schädelbasis, das Kopfgelenk. Dieser Bereich ist ein wichtiges Reflexzentrum, welches auch die Spannung der Haltemuskulatur steuert. Es bestehen wichtige Verbindungen zum Gehirn (Sehzentrum, Hörzentrum, Gleichgewichtsorgan), die von diesem Reflexzentrum beeinflusst werden. Die Stellung des Kopfes im Raum und auch zum Körper wird hier gesteuert.
Atlas und Axis unterscheiden sich im Bau von den übrigen Halswirbeln. Der Atlas, der den Kopf trägt, besitzt keinen Wirbelkörper. Er ist nach dem griechischen Gott Atlas, der der Sage nach die Säulen des Himmelsgewölbes trug, benannt.

Anhang 4:
Ob eine echte Erkrankung vorliegt, kann mittels cranio-sacral-therapeutischer Behandlung nicht festgestellt werden.
Dazu muss eine differentialdiagnostische Abklärung erfolgen, denn eine Vielzahl unterschiedlicher Grunderkrankungen kann zu Veränderungen der kindlichen Halssäulenwirbelregion mit funktionellen, neurologischen oder kosmetischen Folgeproblemen führen.
Die im Rahmen der Vorstellung zunehmend häufiger geäußerte Verdachtsdiagnose lautet „KISS-Syndrom“. Unabhängig von der Frage,ob es kopfgelenksinduzierte Symmetriestörungen überhaupt gibt oder ob hier gesunde Kinder zu behandlungsbedürftigen Patienten abgestempelt werden, besteht die Notwendigkeit, sinnvoll die weiteren Schritte in der diagnostischen Kaskade einleiten zu können. Die Bandbreite möglicher Grunderkrankungen erstreckt sich von Traumafolgen über Entzündungen und Tumore bis zu Fehlbildungen.
(Aus: „Die Differentialdiagnose des Schiefhalses im Kindesalter“ von Dr. Gregor Schoenecker)


Grundlagen der kindlichen Entwicklung - Frühkindliche Reflexe

von Andrea Jaspert und Anja van Velzen

Herausgegeben von: „Kinder im Lot" e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft Neurophysiologie & Pädagogik
Beim Rauhen Hause 42 22111 Hamburg, 1997
Assoziiert mit „The Institute for Neuro-Physiological Psychology" (INPP) 4, Stanley Place Chester CH1 2LU England

Jedes Kind ist ein einzigartiges Wesen - trotzdem entwickelt es sich von Anfang an nach bestimmten vorgegebenen Mustern. Die meisten Eltern haben eine Vorstellung von der Entwicklung der kindlichen Organe wahrend der Schwangerschaft. Sie wissen, wann z.B. das Herz zu schlagen beginnt, das Geschlecht festgelegt ist usw.. Die Reifung des Zentralen Nervensystems (ZNS), das die Entwicklung und Funktion dieser Organe steuert, ist den Eltern weniger bekannt. Das ZNS besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark und ist die Zentrale für die Überwachung, Koordinierung und für das Dirigieren aller Lebens- und Körperfunktionen. Außerdem ist es das Bindeglied zwischen allen Körpersystemen, indem es Informationen von einem System zum anderen weiterleitet.

Auch das ZNS entwickelt sich vom Zeitpunkt der Empfängnis an nach einem vorgegebenen Plan. Die Abfolge dieses Reifungsprozesses ist trotz kultureller und individueller Unterschiede für alle gesunden Kinder gleich.

Die frühkindlichen Reflexe spielen im Reifungsprozeß des ZNS eine zentrale Rolle. Sie entstehen zu festgelegten Zeitpunkten, entwickeln sich bis zu ihrem Höhepunkt und werden, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, allmählich gehemmt und kontrolliert. Jede Störung dieser Abfolge wirkt sich auf die Entstehung, Funktion und Unterdrückung des
nächsten Reflexes aus und beeinträchtigt somit die vollständige Reifung des ZNS.

Die frühkindlichen Reflexe entwickeln sich im Uterus. Sie initiieren und treiben die Bewegungsentwicklung voran, unterstützen den Geburtsprozeß und bleiben in den ersten Lebensmonaten aktiv. Sie sorgen für das Überleben des Neugeborenen, indem sie es mit unwillkürlichen Reaktionen auf innere oder äußere Reize, z.B. Hunger, Kälte, Angst usw., ausstatten. Zu diesem Zeitpunkt kann es diese Bewegungen nicht kontrollieren. Nach einigen Wochen hat sich das kindliche Gehirn so weiterentwickelt, daß willkürliche Bewegungen möglich werden und die Reflexantworten mehr und mehr kontrolliert werden können.

Wenn die frühkindlichen Reflexe unterdrückt worden sind, bilden sich zunehmend die Halte- und Stellreflexe heraus, die lebenslang fortbestehen. Sie statten das Kind mit grundlegenden Fähigkeiten aus, wie z.B. den Kopf zu heben und ihn aufrecht zu halten, und ermöglichen nach und nach die Entwicklung immer komplexerer Fertigkeiten bis hin zur Beherrschung der Feinmotorik, Koordination, Lesen, Schreiben, Rechnen, usw.

Viele Eigenschaften sowie Stärken und Schwächen eines Kindes werden bereits durch seine Erbanlagen festgelegt. Der Schwangerschaftsverlauf, der Geburtsprozeß und die ersten Lebensmonate können geringfügige genetische Schwachstellen entweder kompensieren oder verstarken.

Da der Embryo bzw. Fötus vollständig durch die Mutter versorgt wird, ist ihr Gesundheitszustand vor und während der Schwangerschaft die Grundlage für seine Entwicklung. Der Aspekt der Ernährung ist dabei ein Hauptfaktor, dessen Einfluß umfassend untersucht worden ist.

Studien in den USA (Pfeiffer, La Mola) zeigen z.B., daß die Versorgung mit lebenswichtigen Vitaminen und Mineralstoffen nur Bruchteile unterhalb des Bedarfs liegen muß, um die Reifung des ZNS zu beeinträchtigen. Beischer und Mackay (1986) untersuchten die Folgen von Fehlbzw. Mangelernährung für die Fortpflanzung. Ihrer Meinung nach wird durch mangelhafte Ernährung das Risiko für Fehlgeburten, Blutarmut, Infektionen und ungenügende Milchproduktion erhöht. Fehlbildungen, geringes Geburtsgewicht, Totgeburt, Infektionen und neurologische Behinderungen lassen sich ebenfalls darauf zurückführen. Neuere Studien betonen die wichtigen Zusammenhänge zwischen Ernährung und optimalem Wachstum des Individuums. Schon geringfügige Abweichungen von der normalen Entwicklung genügen, um die „neurologische Uhr", die die Abfolge der neurophysiologischen Entwicklung steuert, von Anfang an falsch zu stellen.

Die Auswirkungen von Streß während der Schwangerschaft sind noch umstritten. Nach Odent (1990) treten bei Angst und Streß Veränderungen im Stoffwechsel und im Hormonspiegel auf. Die Streßhormone Kortisol und Adrenalin werden vermehrt ausgeschüttet und beeinträchtigen empfindliche Stoffwechselvorgänge. Es gilt als bewiesen, daß sich ein hoher Adrenalinspiegel bei der Mutter auf den Embryo bzw. Fötus überträgt. Ein hoher Streßhormonspiegel im kindlichen System kann die Aktivität früher Reflexe beeinträchtigen.

5-7 Wochen nach der Empfängnis zeigt der Embryo die ersten erkennbaren Reaktionen auf äußere Reize, die sogenannten Rückzugsreflexe. Eine Stimulation der Mundregion erzeugt einen reflexbedingten Rückzug des gesamten Organismus vom Reiz weg. Nach und nach

erweitert sich die Sensibilität auf andere Bereiche des Gesichts, auf die Handflachen und Fußsohlen, bis schließlich der ganze Körper berührungsempfindlich wird.
Die Mundregion, die zuallererst eine Reflexreaktion zeigte, bleibt auch wahrend der ersten Lebenswochen hochsensibel. Such- und Saugreflexe ermöglichen dem Neugeborenen die Nahrungssuche und -aufnähme und sind deshalb überlebenswichtig.

9-12 Wochen nach der Empfängnis haben sich die Rückzugsreflexe etabliert und der Moro Reflex bildet sich heraus. Er dient dem Neugeborenen als "Alarmanlage" und ist die früheste Form einer Flucht- oder Kampf- Reaktion. Der Reflex kann durch eine plötzliche Lageverände-rung des Kopfes nach hinten, ein lautes Geräusch, grelles Licht oder eine plötzliche Bewegung im Gesichtsfeld des Kindes ausgelöst werden. Die unwillkürliche Reaktion darauf ist eine reflexive Streckung der Arme und Beine nach außen, ein Öffnen der Hände und ein schnelles, tiefes Einatmen. Nach einem Moment der Erstarrung werden die Arme vor dem Körper zusammengebracht und der Atem löst sich häufig in einem Schrei. Moro (1918) bezeichnete dieses Bewegungsmuster auch als "Umklammerungs- oder Greifreflex", in Anlehnung an die Reaktion von Affenbabys, die sich bei Gefahr an das Fell der Mutter klammern. Die "Flucht- oder Kampf- Reaktion aktiviert das sympati-sche Nervensystem: Der Blutdruck steigt, Herzschlag und Atemfrequenz erhöhen sich, Adrenalin und Kortisol werden ausgeschüttet. Alle Systeme schalten automatisch auf Notfall - unabhängig davon, ob die Gefahr real ist oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt hat das Baby noch keine Möglichkeit, die Quelle der Bedrohung zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.



Abb. 1: Moro Reflex

Nach dem 3. Lebensmonat sollte die Moro-Reaktion durch den differenzierteren Erwachsenen - Schreckreflex abgelöst werden und dem Körpersystem nur noch in extrem gefährlichen Situationen zur Verfügung stehen. Wird der Moro Reflex nicht rechtzeitig gehemmt, bleibt das Kind für bestimmte äußere und innere Reize überempfindlich. Geräusche, Licht, schnelle Bewegungen und/ oder Lageveränderungen können es unter großen Streß setzen. Das sympatische Nervensystem wird standig beansprucht, um eine schnelle Reaktion auf die vermeintliche Bedrohung zu ermöglichen. Der Blutzuckerspiegel steigt an, was langfristig dazu führt, daß die Blutzuckerreserven schneller aufgebraucht sind. Diese körperlichen Streßreaktionen führen dazu, daß das Kind weniger Ausdauer und eine kürzere Konzentrationsspanne hat. Goddard (1996) führt aus, daß sich Kinder mit fortbestehendem Moro Reflex häufig in einem Zustand von Überangstlichkeit und übermäßiger Wachsamkeit befinden. Sie haben Schwierigkeiten damit, innere und äußere Reize zu filtern und einzuordnen und sind deshalb schnell überladen.

Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden Moro Reflex

Anna (10) ist ein hübsches, hochintelligentes Mädchen - sehr schlank, ernst und distanziert.

Anna hat seit Beginn ihrer Schulzeit erhebliche Probleme und verweigert inzwischen jegliche Leistung. Ihre Familie leidet unter ihren taglichen Wutausbrüchen und ihrer Verschlossenheit. Die Mutter berichtet, daß Anna ein äußerst unruhiges, forderndes und anstrengendes Baby gewesen sei. Schon damals hatte sie regelmäßig Schreianfälle, bei denen sie sich nicht beruhigen ließ, und die durch Körperkontakt und Streicheln eher heftiger wurden. Nach diesen Ausbrüchen war Baby Anna wie ausgewechselt - entspannt, freundlich, ausgeglichen. Aber an jedem neuen Tag baute sich wie ein Gewitter die Spannung wieder auf, die gegen Abend entladen werden mußte. Die Mutter lernte, sich auf Annas Auffälligkeiten einzustellen, und hatte früh das Gefühl, die kleine Tochter auf besondere Weise schützen zu müssen.
Anna schien überempfindlich zu sein gegenüber Geräuschen, hellem Licht, Gerüchen, aber auch gegenüber jedem Wechsel, jeder Veränderung in ihrer Umgebung und ihrem Tagesablauf Sie hatte Angst vor Tieren, Gewitter, Dunkelheit, Wasser, entwickelte Abneigungen und Unverträglichkeiten gegen bestimmte Lebensmittel, reagierte auf Streß mit Hautausschlägen. Sie spielte ungern mit anderen Kindern und mied den Spielplatz.

Zuhause konnte sie sich ausdauernd und äußerst phantasievoll beschäftigen. Sie sprach sehr früh und eloquent und machte auf "externe" Erwachsene einen altklugen, etwas arroganten Eindruck. Die Schwierigkeiten begannen mit Eintritt in den Kindergarten. Anna wollte sich nicht eingewöhnen, die Erzieherinnen mußten das schreiende Kind festhalten, bis die Mutter gegangen war. Anschließend setzte sie sich in eine Ecke auf den Boden und beobachtete stumm und reglos das Geschehen. Nach zwei Wochen nahm die Mutter sie aus dem Kindergarten heraus und stieß überall auf Unverständnis. Man warf ihr überbehütendes Verhalten, Erziehungsfehler, mangelnde Konsequenz vor.

Schon früh entwickelte Anna Ängste vor der Schule, obwohl sie bereits mit fünf Jahren lesen und schreiben konnte. Ihrer sehr verständnisvollen Lehrerin gelang es zunächst, sie behutsam einzugliedern. Dennoch scheiterte Anna, weit sie einerseits intellektuell unterfordert und andererseits emotional hoffnungslos überfordert war. Jeder einzelne Schulvormittag mit seiner ständigen Geräuschkulisse, dem quirligen Gewusel der anderen Kinder, dem Neonlicht, dem Wechsel von Lehrern und Unterrichtsmethoden erschöpfte sie vollständig. Sie kann sich nur schwer konzentrieren, ermüdet rasch, der Sporfun-terricht ängstigt sie, sie leidet unter dem Spott der Klassenkameraden, ist schnell eingeschnappt und bricht häufig in Tränen aus. Zuhause ist sie entweder tyrannisch und aggressiv oder unzugänglich und deprimiert.

Der Tonische Labyrinth Reflex (TLR) erscheint um die 12. Schwangerschaftswoche. Er ermöglicht dem Kind die erste Auseinandersetzung mit der Schwerkraft und bildet mit seiner Verbindung zum vestibu-lären System (Gleichgewichtsorgan) die Grundlage für das kindliche Gleichgewicht. Auch für die Geburt spielt er eine wichtige Rolle. Über das Gleichgewichtsorgan, das als einziges sensorisches System schon vor der Geburt ausgereift ist, erfahrt der Fötus seine Lage im Raum, weiß also, wo der Weg "nach draußen" ist. Indem es sich vor der Geburt so dreht, daß sein Kopf im Becken der Mutter sitzt, schafft er die optimale Ausgangslage für seine Geburt. So kann eine Beckenendoder Querlage schon ein Symptom für Störungen im vestibulären System sein. Außerdem wirkt der TLR unterstützend beim Eintritt in den Geburtskanal.
Der TLR manifestiert sich in zwei unterschiedlichen Haltungen: Der TLR vorwärts wird ausgelöst, wenn der Kopf des Babys über die Mittellinie hinaus nach vorne gebeugt wird. Als Reaktion beugen sich die Arme und Beine. Der TLR rückwärts wird aktiviert, wenn sich der Kopf unterhalb der Mittellinie nach hinten bewegt. Das Kind reagiert hierauf mit einer Streckung der Arme und Beine. Die Präsenz des TLR hat in den ersten Lebenswochen einen tonisie-renden Einfluß auf die Muskelspannung im ganzen Körper und balanciert die Spannung zwischen Beuge- und Streckmuskeln aus. Zunächst reagiert der Körper mit starker Beugung und Streckung. In dem Maße, wie das Kind lernt, den Reflex zu kontrollieren, verfeinern sich seine Bewegungen. Das Gleichgewicht und die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum werden trainiert.
Der TLR vorwärts sollte bis zum 4. Lebensmonat überwunden und durch die Kopfstellreflexe abgelöst werden.


Abb. 2: TLR vorwärts

Der TLR rückwärts wird ab dem 3. Lebensmonat in den Landau Reflex, den Symmetrischen Tonischen Nackenreflex (STNR) und in die
Kopfstellreflexe umgewandelt. Dies ist ein,stufenweiser Prozeß, der bis zum Ende des dritten Lebensjahres dauern kann. Wird der TLR nicht zum richtigen Zeitpunkt gehemmt, so wird er die Gleichgewichtsentwicklung empfindlich stören. Betroffene Kinder können Schwierigkeiten im Umgang mit Raum, Zeit, Entfernung und Eigenwahrnehmung haben. Jede Bewegung des Kopfes nach vorne oder hinten führt zu einer reflexiven Beugung oder Streckung der Beinmuskulatur.
Schlaffe Kinder, die sich auffällig langsam und träge bewegen, haben häufig einen fortbestehenden TLR vorwärts, sehr steife Kinder mit unbeholfenen und manchmal abgehackten Bewegungen dagegen den TLR rückwärts.


Abb. 3: TLR rückwärts

Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden TLR
Tim (9) ist ein untersetzter Junge - gutmütig, freundlich und bedächtig. Er bewegt sich auffallend langsam, spricht leise, undeutlich und etwas monoton. In der Schule ist er sehr beliebt, aber leistungsschwach. Vor kurzer Zeit erst wurde festgestellt, daß Tim so gut wie gar nicht lesen kann, dafür scheint er eine phänomenale Begabung darin gehabt zu haben, ganze Passagen nach dem Gehör auswendig zu lernen und anhand von Bildern und rudimentären Lesefähigkeiten den Unterrichtsinhalten zu folgen. In Mathematik macht er sogenannte "dumme" Fehler, er vertauscht Zahlen, schreibt Einer und Hunderter nicht korrekt untereinander. Seine Lehrer sind oft ratlos, wie sie ihn beurteilen sollen. Seine Eltern sind am Rande der Verzweiflung über Tims "Schlampigkeit" Sein Zimmer ist ein Schlachtfeld ohne irgendein erkennbares Ordnungssystem, er hält Zeiten und Absprachen nicht ein, dauernd geht ihm etwas kaputt, er vergißt Hausaufgaben, verliert Schulbücher.

Als Baby war er schlaff und "bewegungsfaul" und bekam aufgrund seiner Hypotonie schon früh Krankengymnastik, die allerdings nur mit großem Aufwand und gegen seinen massiven Widerstand durchgeführt werden konnte. Er schlief sehr schlecht ein: 'Am besten auf dem Arm getragen und kräftig gerüttelt und geschüttelt oder im Kinderwagen in unendlichen Runden ums Viertel... ", erzählt die Mutter. Er krabbelte ungern und kurz und lernte spät laufen und sprechen. Tim war ständig in Unfälle aller Art verwickelt, er fiel häufig hin, war ungeschickt und tolpatschig, zerbrach Gegenstände und Spielzeug oder ließ sie fallen. Er ißt bis heute mit großem Appetit, kleckert und verschüttet Essen und Trinken jedoch wie ein Kleinkind. Wenn der Streß zunimmt, leidet er unter Schwindel und Übelkeit, und er ist regelmäßig reisekrank.

Mit seiner offenen, verträglichen Art hat Tim einen großen Freundeskreis, von seinen Gefühlen der Unsicherheit und Unzulänglichkeit wegen der mangelhaften Schulleistungen wissen nur seine Eltern.

Im zweiten Schwangerschaftsdrittel beginnt die Mutter, die Aktivität ihres Babys zu spüren. Einige dieser Bewegungen sind Reaktionen auf einen weiteren frühkindlichen Reflex - den Asymmetrischen Tonischen Nackenreflex (ATNR). Er erscheint um die 16. Schwangerschaftswoche und sollte bis zum 6. Lebensmonat gehemmt und kontrolliert sein.

Der ATNR wird durch eine Drehung des Kopfes zu einer Seite ausgelöst. Die Gliedmaßen auf der Seite, zu der der Kopf gedreht wird, strecken sich, wahrend sie sich auf der Hinterhauptseite beugen.


Abb. 4: ATNR

Im Uterus werden mit diesem Reaktionsmuster asymmetrische Bewegungen eingeübt. Dies hat wie der TLR einen tonisierenden Effekt auf die Muskulatur - jedoch nur auf einer Körperseite - und stimuliert das Gleichgewicht.

Der ATNR hat wie der TLR eine wichtige Funktion bei der Geburt und sollte zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung sein. Er hilft dem Kind, sich im Rhythmus der mütterlichen Wehen durch den Geburtskanal zu "schrauben". Hebammen wissen um die Wirkung des ATNR und nutzen ihn, indem sie das gerade geborene Köpfchen schnell von einer Seite zur anderen drehen und damit die Geburt der Schultern und des Rumpfes beschleunigen.

In den ersten sechs Lebensmonaten hat der ATNR folgende wichtige Funktionen:

Die Kopfdrehung zur Seite und die reflexive Streckung des Armes kann als erste Augen-Handkoordination gelten (DeMyer 1980). Sie erweitert das Blickfeld des Babys ganz allmählich von einer Distanz von ca. 12-15 cm bei der Geburt bis auf Armeslange und darüber hinaus. Zu diesem Zeitpunkt werden Kopf, Augen und Arm als Einheit zur Seite bewegt. Erst wenn sich dieses Muster um den 6. Lebensmonat aufzulösen beginnt, kann das Kind Gegenstande, die es in Rückenlage neben sich erblickt, ergreifen und zur Körpermittellinie bringen, um sie taktil und visuell zu untersuchen. Der ATNR erleichtert dem Baby außerdem die Atmung in Bauchlage.
Bleibt der ATNR über den normalen Zeitpunkt hinaus bestehen, stört er die nachfolgende Bewegungs- und Sinnesentwicklung. Das betroffene Kind wird Schwierigkeiten haben, im Kreuzmuster auf dem Bauch zu kriechen und auf Händen und Knien zu krabbeln. Beide Bewegungsmuster sind entscheidend für die Verfeinerung der Augen-Handkoordination, des Gleichgewichts, der flexiblen Einstellung der Augen von Nah- auf Fernsicht und umgekehrt. Ein fortbestehender ATNR stört die Etablierung einer eindeutigen Seitigkeit (Gesell & Arnes 1947). Die Versteifung bzw. Anspannung einer Körperseite führt dazu, daß sich betroffene Kinder häufig unkoordiniert und unbeholfen bewegen.

Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden ATNR

Benni (12) ist groß und kräftig. Er wirkt zurückhaltend und gehemmt Seine Mutter berichtet, daß er sehr unter seinen Schulschwierigkeiten leidet. Tests bei der Schulpsychologin ergaben eine gute Intelligenz, trotzdem berechtigen Ihn seine Zeugnisse nur zu einem Besuch der Hauptschule. "Er gibt sich solche Mühe", erzählt die Mutter. "Er sitzt stundenlang an seinen Hausaufgaben und hat dann oft keine Kraft mehr für Freundschaften oder Hobbys"

Benni isoliert sich zusehends. "Es ist, als ob er aufgegeben hat", sagt ¦ die Mutter. Er hat regelmäßig Kopfschmerzen und scheint trotz der Brille nicht gut zu sehen.
Als Benni klein war, hatte seine Mutter oft das Gefühl, er werde durch irgend etwas daran gehindert, sich wie andere Babys zu bewegen und zu beschäftigen. Er spielte viel weniger mit seinen Händen, griff nicht nach Spielzeug, war angespannt und unzufrieden und weinte viel. Jeder neue Schritt in seiner Bewegungsentwicklung war mit großem Streß verbunden: Benni krabbelte spät und ungern, er ließ sich mit dem Laufenlernen viel Zeit und lief dann sehr unbeholfen und steif, fiel oft und schmerzhaft hin, was seine Unsicherheit verstärkte. Da er sehr schnell wuchs, hatte er schon in der Grundschulzeit häufig Rücken und Knieschmerzen.

Im Sport ist er unsicher und gehemmt, fürchtet das Urteil der Kameraden. Er schreibt immer noch so langsam und mühsam wie ein Schulanfänger, wobei er den Stift stark aufdrückt und oft Schreibkrämpfe bekommt. Er macht zahlreiche Fehler, selbst beim Abschreiben, im Ausdruck ist er unbeholfen. Benni hat große Wissenstücken, er liest höchst ungern und nur, wenn es sich nicht vermeiden läßt.

Der Spinale Galant Reflex erscheint etwa in der 18. Schwangerschaftswoche. Er laßt sich an den zappelnden Bewegungen erkennen, die die Mutter in der 2. Hälfte der Schwangerschaft spürt. Wird der Fötus im Bereich der Lendenwirbelsaule stimuliert, löst dieser Reflex eine Hüftdrehung nach aufien von bis zu 45 Grad aus.


Abb. 5: Spinaler Galant Reflex

Über die Funktionen des Spinalen Galant Reflexes ist wenig bekannt. Man geht davon aus, daß er eine aktive Rolle im Geburtsprozeß spielt. Die Wehenkontraktionen der Mutter stimulieren die Beckenregion des Kindes und lösen die Reflexreaktion aus. Indem es seine Hüften zur Seite bewegt, schlangelt es sich durch den Geburtskanal hindurch. Der Spinale Galant Reflex sollte zwischen dem 3.- 9. Lebensmonat unterdrückt werden. Kinder, bei denen er darüberhinaus aktiv ist, bleiben im Lendenwirbelbereich äußerst empfindlich. Oft lehnen sie deshalb enge Kleidung oder Gürtel ab, da sie schon ausreichen können, um den Beckenbereich zu stimulieren und die Reflexantwort hervorzurufen. Diese Kinder sind oft die "Zappelphilippe" im Klassenraum, die motorisch unruhig sind und nie stillsitzen können.

Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden Spinalen Galant Reflex

Roberto (8) ist ein kleiner zarter Junge, der angespannt und unruhig wirkt. Im Kontakt ist er ausweichend und leicht abgelenkt. Er ist der jüngste von mehreren Geschwistern. Seine Mutter, eine Frau an die Fünfzig, wirkt sehr erschöpft und berichtet, daß sie Roberto nicht mehr "im Griff" habe.

Schon als Baby war er außerordentlich lebhaft und quirlig, konnte nicht allein sein, wollte immer herumgetragen und unterhalten werden. Er war einerseits oft quengelig und launisch, anderseits bezauberte er die Familie mit seiner Lebendigkeit und seinem Charme. Schwieriger wurde es, als er etwa zwei Jahre alt war. Er aß und schlief schlecht, war ständig in Bewegung, kletterte und krabbelte auf Möbel, Schränke, Mauern, Bäume und Gerüste, war immer wieder verschwunden, konnte sich keine fünf Minuten ruhig mit einem Spiel beschäftigen. Er haßte es, angezogen zu werden, trug mit drei Jahren noch Windeln und näßte bis zum Schuleintritt regelmäßig nachts ein. Obwohl er eine schnelle Auffassungsgabe besitzt, ist Tim ein schlechter Schüler. Seine Aufgaben erledigt er flüchtig und fehlerhaft oder gar nicht. Die größte Zumutung ist es für ihn stillzusitzen - beim Essen, im Klassenraum, Zuhause am Schreibtisch, bei längeren Autofahrten. Er ist ein guter Sportler, herausragend in Leichtathletik, hat aber eine eher schwache Konstitution und wenig Ausdauer. Bei seinen Schulkameraden gilt er als Klassenclown und Stimmungskanone, aber auch als unzuverlässig und schwankend in seinen Gefühlen und Vorlieben.

Er braucht ständig "etwas Neues", sonst ist er schlecht gelaunt und wird rast- und ruhelos.
Diese Einführung war ein erster Blick in die Welt frühkindlicher Reflexe. Neben den hier beschriebenen Wirkungen können fortbestehende Reflexe auch das schulische Lernen und das kindliche Verhalten beeinflussen.

Literaturhinweise:
Beischer, N.A., Mackay, E.V. (1986), Obstetrics and the Newborn Baillere Tindall
DeMyer, W. (1980), Technique of the Neurological Examination Mc Graw-Hill Book Company
Gesell, A. & Arnes, L. (1947), The Development of Handedness
Journal of Genetic Psychology, 70, 1947, pp. 155-175
Goddard, S. (1996), Developmental Milestones: A blueprint for survival aus: A teacher's Window into the child's mind Eugene, Oregon, Fern Ridge Press

Weiterführende Informationen und Publikationen der Schriftenreihe Neurophysioiogie und Pädagogik sind bei „Kinder im Lot" e.V. Bundesarbeitsgemeinschaft Neurophysioiogie & Pädagogik erhältlich.„ Kinder im Lot" e.V. Bundesarbeitsgemeinschaft Neuropsychoiogie und Pädagogik, Beim Rauhen Hause 42, 22111 Hamburg, Tel./Fax: 040 / 651 53 24

Odent, M. (1990), Water and Sexuality
Penguin Group, 27 Wrights Lane, London W8 5 TZ
Pfeiffer, C. C. & La Mola, S.
Zinc and Manganese in the Schizophrenias Journal of Orthomolecular Psychiatry Vol. 1 2, No. 3


Eine Abhandlung über die Bedeutung der Bewegung und der frühkindlichen Reflexe für die kognitive Entwicklung

Bewegung und Lernen

von Rosemarie Haus

Vorgelegt von Rosemarie Haus ihm Rahmen der Ausbildung in Neurophysiologischer Entwicklungsförderung NDT/INPP bei Anja van Velzen 2006/2007.

Aufgrund des großen Umfanges dieser Arbeit (66 Seiten) haben wir sie hier zum Download als PDF bereitgestellt: Bewegen_und_Lernen.pdf


Menschliche Entwicklung in Bezug zu den psychosozialen Grundbedürfnissen

Handout zusammengefasst von Lin Burian aus Stauss, 2006, Rudolf, 2004, Grawe, 2004 und der Informationsschrift über die Erfahrungsorientierte Bindungsberatung EBT der Arbeitsgemeinschaft Bindungstherapie ABT, 2005

Die Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung ist die sichere Bindung eines Kindes an verlässliche und feinfühlige Bezugspersonen. Feinfühliges Verhalten (Attunement) heißt, die Signale des Kindes (des Säuglings) richtig deuten und adäquat handelnd beantworten zu können (z.B. Suche nach Körperkontakt und Nähe, Wärme, Schutz, Geborgenheit; Versorgen, Füttern, Ansprechen, Beruhigen, Tragen; emotionale, mimische und verbale Spiegelung).

Aus der Beziehungserfahrung, versorgt, beruhigt, beachtet und getröstet zu werden, entwickelt sich die Fähigkeit zur Selbstberuhigung, Selbstbeachtung und Selbstfürsorge; aus der Beziehungserfahrung des emotionalen Gehalten- und Verstandenwerdens entsteht die Fähigkeit zu introspektivem, emotionalem Selbstverständnis und der Fähigkeit, Körpererleben mit Emotionen zu verknüpfen.

Das explorative Verhalten des Kindes ist dem Bindungsverhalten (Schutzsuchen) komplementär zugeordnet. Fühlt das Kind sich sicher, wagt es sich von der Bezugsperson weg und will Personen oder Gegenstände in der Umgebung erkunden. Dieses Erkundungsverhalten bildet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Autonomie des Kindes. Die Verinnerlichung der verläßlichen Beziehungserfahrungen macht zunehmend von der realen Anwesenheit der Bezugsperson(en) unabhängiger und es entsteht Raum für selbstständiges, durch den Willen und Neugier motiviertes Handeln. Das durch eigenes Verhalten erfolgreiche Wirken im Sinne bestimmter, persönlicher Ziele führt zu positiven Selbstwirksamkeitserwartungen. Korrespondierend zu den wachsenden Möglichkeiten erlernt das Kind, die Perspektive anderer zu übernehmen bzw. sie zu verstehen.

Werden die Nähe-, Bindungs- und Autonomiebedürfnisse von den Bezugspersonen liebevoll und angemessen unterstützt und anerkennend gespiegelt, entwickelt sich ein gesundes Selbstverständnis (dieses kann es erst geben, wenn sich bereits ein bewußtes Selbst entwickelt hat) bezüglich der eigenen Kompetenz, Liebenswertheit, Würde und Selbstachtung (Fähigkeit zur Selbstwertregulierung – selbst bei Misserfolgen werden Möglichkeiten gefunden, das grundlegend positive Selbstwertgefühl wiederzuerlangen, Unterschiede zwischen eigenen und fremden Wünschen und Wertsetzungen können ohne Gekränktheit wahrgenommen werden).

Nachdem in den vorausgegangenen Reifungsschritten zu anderen sichere Bindungen aufgenommen und auf dieser Grundlage das Autonomie- und Selbstwertsystem entwickelt wurde, ist der nächste basale Schritt der Aufbau des Identitätssystems. Die kognitive, emotionale und soziale Reife ermöglicht es, in einem sozialen Netzwerk der Generationen, Geschlechter und sozialen Zuordnungen eine eindeutige Positionierung der eigenen Person vorzunehmen. Das hat die Eindeutigkeit und Konstanz der eigenen Rolle und damit der Identität zur Folge. Aus dieser Sicherheit heraus weiß das Kind (4. bis 6. Lebensjahr), aus welcher Position heraus es seine Beziehungen gestalten kann (auch das heranwachsende Kind muss sich in ein bereits bestehendes soziales System integrieren). Es entsteht ein realistisches Selbst- und lebendiges Körperbild. Die Fähigkeit, sich in der Welt zu orientieren, nimmt zu.

Nach dem erfolgreichen Durchlaufen der vorangegangenen Entwicklungs- und Reifeschritte kann nun ein Wertesystem und ein spirituelles System aufgebaut werden. Es kommt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Wertewelt und zum Versuch, eigene Wertepositionen zu definieren, die handlungsweisend für das persönliche Engagement und den Einsatz der eigenen Kräfte werden. Über einen persönlichen Zugang zur Spiritualität beginnt die Suche nach Beantwortung der existenziellen Fragen des Lebens in Bezug auf Geburt, Leben, Liebe, Leiden und Tod.
Viele Menschen haben in ihrer religiösen oder spirituellen Sozialisation traumatische Erfahrungen gemacht. Nichtsdestotrotz stellt positiv erfahrene Spiritualität eine große Ressource zur Bewältigung von körperlichen oder seelischen Problemen dar (in den letzten dreißig Jahren wurde in den USA in mehr als 200 Studien nachgewiesen, dass konsequent gläubige Menschen gesünder als Atheisten sind. Sie haben z.B. ein um 40% geringeres Bluthochdruckrisiko und weisen mit doppelter Wahrscheinlichkeit ein starkes Immunsystem auf). Spiritualität drückt den eigenen Lebensstil aus, der von der Erfahrung einer persönlichen Beziehung zu einer außerhalb der eigenen Existenz befindlichen höheren Wirklichkeit geprägt ist. Eine Anbindung an eine höhere Ordnung befähigt uns, starre Regeln durch Mitgefühl und Verantwortung zu lockern, aber auch zu erkennen, wo Mitgefühl und Verständnis ihre Grenzen haben. Diesem Konzept liegt ein konfessionsneutraler Transzendenzbegriff zugrunde.

Die Sinngebungsfähigkeit bewirkt eine innere Motivation zur sinnvollen Lebensgestaltung. Ein Leben wird als sinnvoll empfunden, wenn man für etwas lebt, an das man glaubt. Die motivationalen Impulse der Sinngebung kommen aus dem Inneren des gesunden Menschen, das Ziel aber ist außerhalb von ihm. Frankl nennt dies „Selbsttranszendenz“. Dieser Begriff kennzeichnet die Überzeugung, dass wir auf dieser Ebene tief in uns die Notwendigkeit verspüren, unsere Kraft und unser Leben an etwas auszurichten, das außerhalb von uns selbst liegt.

Die organismische Anwort auf die Erfüllung der oben beschriebenen Grundbedürfnisse ist subjektiv in Form von Wohlbehagen und Lebenslust erlebbar. Sie sind nicht nur Ziel, sondern auch Ergebnis eines verantwortungsvollen Umgangs mit den eigenen Grundbedürfnissen und deren anderer. Wie bei allen beschriebenen Grundbedürfnissen wirkt sich eine Verletzung oder mangelhafte Befriedigung eines einzelnen Bedürfnisses sowohl auf die weitere Entwicklung des Systems (Entwicklung des Systems der Nähe und Kommunikation-erstes Vierteljahr, Entwicklung des Bindungssystems-erstes bis zweites Lebensjahr, Entwicklung des Autonomiesystems-zweites bis viertes Lebensjahr, Entwicklung des Identitätssystems-viertes bis sechstes Lebensjahr) wie auch auf die Fähigkeit zur Bedürfnisbefriedigung aus, so auch im Bereich der Lebenslust und körperlicher Integrität.

Konklusion:
Jede Beeinträchtigung des frühen Bindungsaufbaues und der sicheren Bindungserfahrung wirkt sich unmittelbar und nachhaltig auf die lebenslange Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung aus (Bowlby sprach von „inner working models“ -Erwartungen, die ein Mensch an die Verlässlichkeit von Bezugspersonen entwickelt hat und auf andere, aktuelle Beziehungen überträgt) und korreliert mit subjektiv erfahrenem Wohlbefinden, sowie mit körperlicher und mentaler Gesundheit (biologisch-neurophysiologische Determinantien, siehe u.a. Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, 2006, menschliches Suchtverhalten und Motivationssysteme, siehe ebenda).
Aus der Befriedigung des Bedürfnisses nach einer stabilen Beziehungsbasis, die Geborgenheit und Sicherheit gewährleistet, erwächst in einem komplexen Entwicklungsprozeß die Bereitschaft, Beziehungsverpflichtungen und Beziehungsverantwortung zu übernehmen sowie die Fähigkeit, langfristige Beziehungen einzugehen und soziale Verantwortung zu übernehmen.

Im Erwachsenenleben differenziert und erweitert sich die Kunst, Grundbedürfnisse zu befriedigen, immer mehr. In typischen Schwellensituationen (z.B. Verlassen des Elternhauses, Berufseintritt, Familiengründung) wird diese Fähigkeit modifiziert und an die jeweilige Situation angepasst.
Was aber trotz aller Entwicklungen im Laufe des Lebens konstant erhalten bleibt, ist die Notwendigkeit, die psychosozialen Grundbedürfnisse zu kennen und sie in ihrer Gesamtbilanz zu befriedigen. Gelingt diese Anpassung nicht, werden Grundkonflikte erlebbar, die eine Aufforderung zur angemessenen Bewältigung der jeweiligen Lebensituation darstellen können. Damit ist die Kenntnis und die Auseinandersetzung mit den psychosozialen Grundbedürfnissen und den daraus entstehenden Konflikten unter unterschiedlichen Lebensbedingungen nicht nur ein lebenslanger Prozeß, sondern auch ein hilfreiches Mittel, verantwortlich und gesundheitsfördernd mit sich selbst und anderen umzugehen.


Schriftliche Arbeit (Zusammenfassung)

Medizinethik I: Embryonenforschung

von Lin Burian

Aufgrund des Umfanges dieser Arbeit (29 Seiten) haben wir sie hier zum Download als PDF bereitgestellt: Medizinehtik.pdf


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