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Psychosoziale Grundbedürfnisse
Zusammenfassung von Lin Burian
Die Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung ist die sichere Bindung eines Kindes an verlässliche und feinfühlige Bezugspersonen. Feinfühliges Verhalten (Attunement) heißt, die Signale des Kindes (des Säuglings) richtig deuten und adäquat handelnd beantworten zu können (z.B. Suche nach Körperkontakt und Nähe, Wärme, Schutz, Geborgenheit; Versorgen, Füttern, Ansprechen, Beruhigen, Tragen; emotionale, mimische und verbale Spiegelung).
Aus der Beziehungserfahrung, versorgt, beruhigt, beachtet und getröstet zu werden, entwickelt sich die Fähigkeit zur Selbstberuhigung, Selbstbeachtung und Selbstfürsorge; aus der Beziehungserfahrung des emotionalen Gehalten- und Verstandenwerdens entsteht die Fähigkeit zu introspektivem, emotionalem Selbstverständnis und der Fähigkeit, Körpererleben mit Emotionen zu verknüpfen.
Das explorative Verhalten des Kindes ist dem Bindungsverhalten (Schutzsuchen) komplementär zugeordnet. Fühlt das Kind sich sicher, wagt es sich von der Bezugsperson weg und will Personen oder Gegenstände in der Umgebung erkunden. Dieses Erkundungsverhalten bildet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Autonomie des Kindes. Die Verinnerlichung der verlässlichen Beziehungserfahrungen macht zunehmend von der realen Anwesenheit der Bezugsperson(en) unabhängiger und es entsteht Raum für selbstständiges, durch den Willen und Neugier motiviertes Handeln. Das durch eigenes Verhalten erfolgreiche Wirken im Sinne bestimmter, persönlicher Ziele führt zu positiven Selbstwirksamkeitserwartungen. Korrespondierend zu den wachsenden Möglichkeiten erlernt das Kind, die Perspektive anderer zu übernehmen bzw. sie zu verstehen.
Werden die Nähe-, Bindungs- und Autonomiebedürfnisse von den Bezugspersonen liebevoll und angemessen unterstützt und anerkennend gespiegelt, entwickelt sich ein gesundes Selbstverständnis (dieses kann es erst geben, wenn sich bereits ein bewußtes Selbst entwickelt hat) bezüglich der eigenen Kompetenz, Liebenswertheit, Würde und Selbstachtung (Fähigkeit zur Selbstwertregulierung – selbst bei Misserfolgen werden Möglichkeiten gefunden, das grundlegend positive Selbstwertgefühl wiederzuerlangen, Unterschiede zwischen eigenen und fremden Wünschen und Wertsetzungen können ohne Gekränktheit wahrgenommen werden).
Nachdem in den vorausgegangenen Reifungsschritten zu anderen sichere Bindungen aufgenommen und auf dieser Grundlage das Autonomie- und Selbstwertsystem entwickelt wurde, ist der nächste basale Schritt der Aufbau des Identitätssystems. Die kognitive, emotionale und soziale Reife ermöglicht es, in einem sozialen Netzwerk der Generationen, Geschlechter und sozialen Zuordnungen eine eindeutige Positionierung der eigenen Person vorzunehmen. Das hat die Eindeutigkeit und Konstanz der eigenen Rolle und damit der Identität zur Folge. Aus dieser Sicherheit heraus weiß das Kind (4. bis 6. Lebensjahr), aus welcher Position heraus es seine Beziehungen gestalten kann (auch das heranwachsende Kind muss sich in ein bereits bestehendes soziales System integrieren). Es entsteht ein realistisches Selbst- und lebendiges Körperbild. Die Fähigkeit, sich in der Welt zu orientieren, nimmt zu.
Nach dem erfolgreichen Durchlaufen der
vorangegangenen Entwicklungs- und Reifeschritte kann nun ein Wertesystem und
ein spirituelles System aufgebaut werden. Es kommt
zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Wertewelt und
zum Versuch, eigene Wertepositionen zu definieren, die handlungsweisend für
das persönliche Engagement und den Einsatz der eigenen Kräfte werden. Über
einen persönlichen Zugang zur Spiritualität beginnt die Suche nach
Beantwortung der existenziellen Fragen des Lebens in Bezug auf Geburt, Leben,
Liebe, Leiden und Tod.
Manche Menschen haben in ihrer religiösen oder spirituellen Sozialisation
traumatische Erfahrungen gemacht. Nichtsdestotrotz stellt positiv erfahrene
Spiritualität eine große Ressource zur Bewältigung von körperlichen
oder seelischen Problemen dar (in den letzten dreißig Jahren wurde in
den USA in mehr als 200 Studien nachgewiesen, dass konsequent gläubige
Menschen gesünder als Atheisten sind. Sie haben z.B. ein um 40% geringeres
Bluthochdruckrisiko und weisen mit doppelter Wahrscheinlichkeit ein starkes
Immunsystem auf). Spiritualität drückt den eigenen Lebensstil aus,
der von der Erfahrung einer persönlichen Beziehung zu einer außerhalb
der eigenen Existenz befindlichen höheren Wirklichkeit geprägt ist.
Eine Anbindung an eine höhere Ordnung befähigt uns, starre Regeln
durch Mitgefühl und Verantwortung zu lockern, aber auch zu erkennen, wo
Mitgefühl und Verständnis ihre Grenzen haben.
Die Sinngebungsfähigkeit bewirkt eine innere Motivation zur sinnvollen
Lebensgestaltung. Ein Leben wird als sinnvoll empfunden, wenn man für
etwas lebt, an das man glaubt. Die motivationalen Impulse der Sinngebung kommen
aus dem Inneren des gesunden Menschen, das Ziel aber ist außerhalb von
ihm. Frankl nennt dies „Selbsttranszendenz“. Dieser Begriff kennzeichnet
die Überzeugung, dass wir auf dieser Ebene tief in uns die Notwendigkeit
verspüren, unsere Kraft und unser Leben an etwas auszurichten, das außerhalb
von uns selbst liegt.
Die organismische Antwort auf die Erfüllung der oben beschriebenen Grundbedürfnisse ist subjektiv in Form von Wohlbehagen und Lebenslust erlebbar. Sie sind nicht nur Ziel, sondern auch Ergebnis eines verantwortungsvollen Umgangs mit den eigenen Grundbedürfnissen und deren anderer. Wie bei allen beschriebenen Grundbedürfnissen wirkt sich eine Verletzung oder mangelhafte Befriedigung eines einzelnen Bedürfnisses sowohl auf die weitere Entwicklung des Systems (Entwicklung des Systems der Nähe und Kommunikation - erstes Vierteljahr, Entwicklung des Bindungssystems - erstes bis zweites Lebensjahr, Entwicklung des Autonomiesystems - zweites bis viertes Lebensjahr, Entwicklung des Identitätssystems - viertes bis sechstes Lebensjahr) wie auch auf die Fähigkeit zur Bedürfnisbefriedigung aus, so auch im Bereich der Lebenslust und körperlicher Integrität.
Konklusion:
Jede Beeinträchtigung des frühen Bindungsaufbaues und der sicheren
Bindungserfahrung wirkt sich unmittelbar und nachhaltig auf die lebenslange
Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung aus (Bowlby sprach von „inner
working models“ -Erwartungen, die ein Mensch an die Verlässlichkeit
von Bezugspersonen entwickelt hat und auf andere, aktuelle Beziehungen überträgt)
und korreliert mit subjektiv erfahrenem Wohlbefinden, sowie mit körperlicher
und mentaler Gesundheit (biologisch-neurophysiologische Determinantien, siehe
u.a. Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, 2006, menschliches Suchtverhalten
und Motivationssysteme, siehe ebenda).
Aus der Befriedigung des Bedürfnisses nach einer stabilen Beziehungsbasis,
die Geborgenheit und Sicherheit gewährleistet, erwächst in einem
komplexen Entwicklungsprozess die Bereitschaft, Beziehungsverpflichtungen und
Beziehungsverantwortung zu übernehmen sowie die Fähigkeit, langfristige
Beziehungen einzugehen und soziale Verantwortung zu übernehmen.
Im Erwachsenenleben differenziert und erweitert sich die Kunst, Grundbedürfnisse
zu befriedigen, immer mehr. In typischen Schwellensituationen (z.B. Verlassen
des Elternhauses, Berufseintritt, Familiengründung) wird diese Fähigkeit
modifiziert und an die jeweilige Situation angepasst.
Was aber trotz aller Entwicklungen im Laufe des Lebens konstant erhalten bleibt,
ist die Notwendigkeit, die psychosozialen Grundbedürfnisse zu kennen und
sie in ihrer Gesamtbilanz zu befriedigen. Gelingt diese Anpassung nicht, werden
Grundkonflikte erlebbar, die eine Aufforderung zur angemessenen Bewältigung
der jeweiligen Lebenssituation darstellen können. Damit ist die Kenntnis
und die Auseinandersetzung mit den psychosozialen Grundbedürfnissen und
den daraus entstehenden Konflikten unter unterschiedlichen Lebensbedingungen
nicht nur ein lebenslanger Prozess, sondern auch ein hilfreiches Mittel, verantwortlich
und gesundheitsfördernd mit sich selbst und anderen umzugehen.
(Zusammenfassung von Lin Burian aus Stauss, 2006, Rudolf, 2004, Grawe,
2004 und der Informationsschrift über die Erfahrungsorientierte Bindungstherapie
EBT der Arbeitsgemeinschaft Bindungstherapie ABT, 2005)
Lin Burian
Praxis für Bindungstherapie
Leserbrief "Kinderbetreuung", Die Presse, 5. März 2007:
Was braucht der Mensch?
Mit einigem Erstaunen und Unwohlsein bis hin zum Entsetzen verfolge ich die heimische Berichterstattung zum Thema Kinderbetreuung. Ihnen herzlichen Dank für den Raum, den Sie großzügig für dieses komplexe Thema bereitstellen, ganz im Gegensatz zu so manch anderen heimischen "Qualitätsmedien".
Ihr Aufmacher vom 24.2.07 "Außerfamiliäre Betreuung
stört Bindung an primäre Bezugsperson nicht" bietet allerdings
eine zu simple Antwort auf eine komplizierte Frage, nämlich die nach den "eigentlichen" Bedürfnissen
sowohl des Kindes als auch der Mutter (und des Vaters). So sehr ich den von
Ihnen zitierten John Bolwby schätze, der wohl für die Bindungsberatung
einen ähnlichen Stellenwert hat wie Freud für die Psychoanalyse,
so sehr vermisse ich aktuelle Aussagen von zeitgenössischen Wissenschaftern
von Weltruf (die u.a. unser Nachbarland Deutschland in reicher Zahl aufzuweisen
hat). Wo lese ich z.B. von Grossmann, Papousek, Rudolf, Stauss, Brisch, wo
höre ich von unserer erfahrenen Kinderärztin Marina Markovich?
In einem Land wie unserem, dessen heutige Mütter und Väter die Nachkommen
einer Generation sind, die mit Krieg, Mord, Gewalt, Vertreibung, Opfer- und
Täterschaft sowie weitreichender Leugnung derselben aufgewachsen ist,
ist die Frage nach unserer Beziehungs- und Bindungsfähigkeit alles andere
als Luxus. Subjektiv erfahrbare menschliche Qualitäten wie Einmaligkeit
der Identität, Selbstbestimmung, Liebesfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit
und damit die Fähigkeit zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortlichkeit
reifen aus Sicht der "Erfahrungsorientierten Bindungsberatung" (ABT
e.V.) ausschließlich im Raum gesunder, sicherer Bindungen. Die daraus
resultierende Zufriedenheit in "Liebe und Arbeit" (Freud) korreliert
mit körperlicher und psychischer Gesundheit. Meines Wissens haben wir
es derzeit mit einem Anteil von etwa 40 Prozent unsicher gebundener Erwachsener
zu tun. Daher müsste meiner Meinung nach gemeinschaftlich(!) alles daran
gesetzt werden, der Kindererziehung und damit dem Lebensraum Familie den ihr
gebührenden Platz einzuräumen, sowohl auf gesellschaftlicher, politischer,
wirtschaftlicher wie therapeutischer Ebene (siehe z.B. SAFE-Programm Münchner
Kinderzentrum).
Ich vertrete den Standpunkt, dass das Thema Beziehungsfähigkeit und sinnstiftende
Prägung von Menschen einen zu hohen Stellenwert hat, als dass wir uns
leisten könnten, darüber auf mäßigem Niveau zu polemisieren.
Lin Burian
Praxis für Bindungstherapie
Fallbeispiel (März 2002):
Festhalten und Cranio-Sacrale-Osteopathie
SCHMERZHAFTE VERSPANNUNG und BINDUNGSSTÖRUNG
von Lin Burian
Baby Sandra
Sandra, dreieinhalb Monate alt, ein schlankes, langgliedriges, blondes Mädchen, das mir in unserer ersten Begegnung durch seinen angestrengt wirkenden, verängstigten Blick und starken Speichelfluss auffällt, den die Mutter, Angelika, 33 Jahre alt, ständig mit einem über den Strampelanzug gebundenen Lätzchen aufzufangen sucht. Angelika stellt mir Sandra als Schreibaby vor. Von ihrer Hebamme habe sie von meiner Arbeit als Cranio-Sacral-Therapeutin und prekopsche Festhaltetherapeutin gehört. Sandra sei, seit sie wenige Tage alt war, auffallend unruhig, trinke schlecht, schlafe wenig, schreie anhaltend lang und viel und, wenn sie das lauthalse Weinen und Schreien kurz unterbricht, wimmere und greine sie, oftmals auch in den kurzen und seichten Schlafphasen.
Mutter Angelika
Angelika saß erschöpft wirkend und den Tränen nahe am äußersten
Rande des Polstermöbels, das ich ihr zum Platznehmen angeboten hatte.
Nach jedem dritten Satz erhob sie sich, um eine kleine Runde mit der quengelnden
Sandra zu drehen, die sie einmal in Bauchlage kräftig auf ihrem Arm wiegte
und schunkelte, dann wieder rücklings schulterte und den kleinen Windelpo
klopfte. Sobald sie sich setzte, wimmerte Sandra erneut los und zappelte unruhig
im Arme der Mutter, die ihrem Baby daraufhin abwechselnd Schnuller und Brust
anbot.
Angelika wirkte nervös, angespannt und völlig überlastet auf
mich. In keiner Minute unseres Gesprächs hielt sie Sandra ruhig und fest
in ihren Armen. Wir benötigten eineinhalb Stunden, um die wichtigsten
Informationen zu sammeln: Sandra war das erste Kind von Angelika und ihrem
Mann. Ein Wunschkind. Beide Elternteile waren beruflich erfolgreich und gut
finanziell abgesichert. Die Befruchtung erfolgte auf natürlichem Wege,
die Schwangerschaft verlief problemlos und entspannt. Der errechnete Geburtstermin
verstrich, zehn Tage danach traten spontan noch keine Wehen auf. Angelika konsultierte
täglich ihren Arzt im Krankenhaus, fühlte sich trotz fortgeschrittener
Schwangerschaft wohl und auch dem Baby ging es laut Ultraschall und Herztonmessung
gut. Dennoch empfahl der behandelnde Arzt am elften Tag nach „dem Termin“,
die Entbindung mit künstlichen Wehenmitteln einzuleiten. Angelika und
ihr Mann stimmten zu.
Die Geburt
Als ein sofort vaginal verabreichtes Wehenmittel nicht den gewünschten Erfolg zeitigte, wurde Angelika an den “Wehentropf“ angeschlossen. Nun setzten die Wehen „mit einer extremen Power“ (O-Ton Angelika) ein. Wiewohl die Gabe des Wehenmittels alsbald unterbrochen worden war, trat Angelika nach nur zwei Stunden in die Austreibungsphase ein. Angelika: „Alles ging plötzlich unglaublich schnell, ich fühlte mich wie ein Druckkochtopf, der knapp vor der Explosion steht.“ Zwei oder drei Presswehen später war Sandra geboren und schrie bald darauf zum ersten Mal los. Angelika beschreibt sich in dieser Situation als „völlig weggetreten“. Sandra zeigte sich von Beginn an recht unruhig, schlief aber in den ersten Tagen noch viel, nahm auch die Brust der Mutter an, wiewohl sie diese während des Saugens oft ausspuckte und das Köpfchen unruhig hin und her bewegte. Bereits nach wenigen Tagen bemerkte Angelika den seither anhaltenden starken Speichelfluss, Sandras Schlafphasen wurden immer kürzer, die Unruhe, auch beim Trinken, immer größer, das Weinen und Schreien immer lauter und mehr. Angelika nahm Sandra oft halbstündig an die Brust, um das Kind damit zu beruhigen und um sich zu vergewissern, daß Sandra nicht vor Hunger weinte. Selbst Fläschchenkost boten die besorgten Eltern ihrer Sandra an, aber auch davon wurde die Kleine nicht ruhiger. Sandra reagierte empfindlich auf jede Berührung. Zahlreiche medizinische Untersuchungen, eine Ernährungsumstellung der Mutter und zwei Tage und Nächte auf einer Schreiambulanz brachten kein Ergebnis oder Linderung. Angelika (und ihr Mann) taten 24 Stunden pro Tag alles, um ihr Kind zu beruhigen, legten es auf Schaffelle, trugen es stundenlang auf ihren Schultern durch Wohnung und Garten, schaukelten es im Kinderwagen, sangen ihm vor, fuhren es im Auto spazieren, massierten, wickelten und fütterten es. Ohne Erfolg. Müdigkeit und Verzweiflung waren Angelika ins Gesicht geschrieben.
„Das will Sandra nicht!“
Am schlimmsten, so Angelika, sei das Gefühl, ihrer Sandra „keine
gute Mutter“ sein zu können, nicht in der Lage zu sein, ihre Tochter
zu beruhigen. Auf meine Frage, ob sie bereits versucht hätte, ihre Kleine
in ein weiches Tuch gewickelt an sich zu drücken und festzuhalten (ich
demonstriere die Haltung), weinte sie: „Das will Sandra nicht! Sie wehrt
sich gegen mich! Sie bugsiert mich mit ihren Ärmchen weg und biegt sich
nach hinten durch. Sie will mich auch nie anschauen....“
Angelika hatte aus dem „abweisenden“ Verhalten Sandras also geschlossen,
dass Sandra sie „nicht wollte“, wertete sich als Mutter ab, empfand
sich als „nicht richtig“, spürte vielleicht selbst ihre Liebe
zu dem Kind aufgrund der erfolglosen und erschöpfenden Anstrengungungen
nur mehr verzweifelt schwach und machte sich insgeheim auch daraus einen Vorwurf.
Ein Teufelskreis. Statt mehr nahm Angelika ihre Tochter immer weniger fest
in den Arm, hob sie mit zaghaften und zögernden Händen hoch, schaute
mit immer müderen und angstvolleren Augen auf das kleine Mädchen,
bot ihr ohne Unterlass neue Ablenkungen an, bis ihr außer Ratlosigkeit
und Verzagtheit nichts mehr blieb und sie das quengelnde Kind abwechselnd ihrem
Mann oder ihrer Mutter überließ, die langfristig genauso wenig ausrichteten
wie sie selbst. Sandra blieb unruhig und war untröstlich.
Meine Vermutung war, dass Sandra sich möglicherweise aufgrund einer osteopathischen Läsion stark unwohl fühlen könnte und vielleicht Schmerzen und/oder (Ver)spannungsgefühle hatte. Aus meiner Erfahrung als Cranio-Sacral-Therapeutin weiss ich, daß u.a. „schnelle“ Geburten oftmals zu Fehlstellungen an Schädel, Becken und Wirbelsäule sowie Extremitäten führen können. Schon minimale Beeinträchtigungen (oft nur im Mikrometerbereich) können indirekt auch Gewebe, Organe, Nerven, Muskeln, Sehnen etc. mitbetreffen. Umgekehrt könnte z. B. auch eine muskuläre Verspannung Auslöser sein. Würde diese Annahme zutreffen, wären Angelika und Sandra ein typischer Fall aus meiner Praxis: Eine u.U. ohnehin unsichere Mutter sieht sich mit einem Kind konfrontiert, das auf keine Form der Zuwendung mit Entspannung reagiert, was die (eventuell latente) Unsicherheit der Mutter weiter erhöht und damit verhindert, dass sich das Baby mit seinem (somatischen) Schmerz von seiner primären Bezugsperson angenommen fühlt. Zusätzlich zur Belastung durch anhaltendes körperliches Unwohlsein ist das Baby damit obendrein durch den Verlust seiner „secure base“ in einen Unruhezustand versetzt.
Bevor ich Angelika bitte, ihr Baby auf die Behandlungsliege zu legen, kläre ich sie über die Möglichkeiten und Grenzen einer cranio-sacralen Intervention auf und schließe Erläuterungen über Bindungstheorie und Festhaltetherapie an. Ich führe sie in den Ablauf eines festhaltetherapeutischen Prozesses ein und beobachte dabei ihre Reaktion. Als ich vom Bedürfnis nach Bindung spreche und ausführe, was ein Vermissen desselben bewirkt, zeigt sich Angelika berührt und stimmt nach Erörterung von weiteren Fragen der von mir vorgeschlagenen Vorgehensweise zu: Zuerst cranio-sacrale Behandlung, danach Festhalten im Arm der Mutter. (An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich in Fällen wie hier beschrieben oftmals auf eine längere Vorbereitungsphase der Mutter auf den festhaltetherapeutischen Prozess verzichte, wenn sich mir die Not des Babies und auch der Mutter so groß darstellt, dass eine sofortige Anleitung zum Halten sinnvoll und eventuell notwendig erscheint.)
Sandra wird cranio-sacral behandelt
Angelika legt ihr kleines Kind auf die Liege. Nach einem Lagetest (Symmetriebetrachtung) ersuche ich die Mutter, sich direkt zu ihrem Kinde auf die Behandlungsliege zu setzen, während ich eine segmentale Untersuchung der Wirbelsäule durchführe. (Abprüfen der Beweglichkeit aller Wirbel vom Beckenring bis zum Hinterkopf durch eine Art „sensorisches Abtasten“.)
Danach
taste ich Sacum (Kreuzbein), Sphenoid (Keilbein) und Occiput (Hinterhauptschuppe)
sowie Diaphragma (Zwerchfell) und Schultergürtel mit den mir zur Verfügung
stehenden cranio-sacral-therapeutischen Griffen, um eine mögliche Blockierung/Unterbrechung
des Cranialimpulses zu lokalisieren.
Am sogenannten Kopfgelenk (siehe Anhang 1) und den darunter liegenden Wirbeln
sowie direkt an der Schädelbasis finde ich Kompression bzw. Hyperextension
(cervikal) vor. Auch Membranen (Falx cerebri und Tentorium) sowie Muskeln
(tiefliegende Nackenmuskulatur und der m.sternocleidomastoidus) sind aus
meiner Sicht betroffen
(siehe hiezu Anhang 2).
Sandra weint während der Palpation herzzerreißend. Ich fordere die Mutter auf, sich mit einer erlaubenden Haltung ihrer Tochter zuzuwenden und spreche gemeinsam mit Angelika selbst zum Kind: „Oh, sooo weh tut das, sag uns nur, wie weh es tut, wir hören dich, ja....“, und ich leite die Mutter an, einige Wimmerlaute von Sandra mitfühlend „nachzuahmen“: „ ohhh, ähhh!“ und sich auf ihren Atemrhythmus einzustimmen.
Nun wende ich die (sanfte) cranio-sacral-therapeutische
Methode der Läsions-Verstärkung
an (Dauer etwa 15 Minuten).
Das heißt, ich „erinnere“ Sandra mit dem zarten Druck meiner
Hände und der von mir angewendeten Methode des „Blickes mit dem
inneren Auge“ an die Entstehung ihrer Blockierung. Mittels konzentrierter
Aufmerksamkeit auf Schädel und Halswirbelsäule, Faszien, Membranen,
Intensität und Amplitude des cranialen Impulses sowie des Zustandes von
Liquorflüssigkeit in den Ventrikeln und innerhalb des „hydraulischen
Membran-Systems“ von Gehirn und Rückenmark erhalte ich, gemäß der
cranio-sacralen Methode, Einblicke in Stationen ihres prä-, peri- und
postnatalen Zustandes.
Auch die Emotionslage des Kindes in diesen Phasen teilt sich mir - und oft
auch der dabeisitzenden Mutter - mit.
In Sandras Fall nehme ich eine Art Erschrecken wahr, das ich als eine mögliche Reaktion auf das für das Ungeborene plötzliche und unerwartete Eintreten der Geburt deute. In meiner Wahrnehmung erlebte Sandra ihre Entbindung als ein „Hinausgeschleudertwerden ins Ungewisse“ unter starkem Druck, ähnlich den Schilderungen der Mutter, explosionsartig und wohl auch schmerzhaft.
(Auch die Mutter dürfte sich von der Geburt überrollt gefühlt haben, immerhin fehlt bei einer künstlichen Einleitung des Geburtsvorganges die spontane und zwischen Mutter und Kind kommunizierte hormonelle Umstellung. Ein Kontaktabriss zwischen Angelika und Sandra hätte, sofern die Bindung vorher vorhanden war, gut vorstellbar an dieser Stelle stattfinden können.)
Zurück zur Behandlung: Noch immer verstärke ich die vorgefundenen
Läsionen bei Sandra mit zartem, aber unbeirrbarem Druck, bis der Cranialimpuls
des Babies vollständig stillsteht (still-point). Nach einigen Momenten
der (cranialen) Regungslosigkeit bemerke ich, wie sich Sandras Köpfchen
unter meinen (nur begleitenden, nicht manipulierenden) Händen zu regen
beginnt. Während Sandra wie von selbst die Bewegungen nachvollzieht, die
sie (so meine Annahme) während des Weges aus dem Geburtskanal durchlebt
hat, merke ich, wie auf cranialer Ebene langsam Entspannung eintritt, der Cranialimpuls
wird wieder deutlich tastbar, die Kompression löst sich.
Von außen betrachtet ist die von mir konstatierte Entspannung noch nicht
wahrnehmbar, Sandra weint und schluchzt. Ich erkläre der Mutter meine
Vermutung, dass Sandra gerade eine vollumfängliche Erinnerung an die Geburt
durchlebt. Doch ich muss nicht viele Worte verlieren, Angelika ist ganz bei
der Sache und nickt zustimmend mit dem Kopf: „Ich sehe es!“
Zum Abschluss positioniere ich meine Handinnenflächen so auf Sandras Köpfchen, als wollte ich den Geburtskanal „nachformen“. Angelika sitzt so, dass Sandras Füßchen sich gegen ihren Oberschenkel stemmen können. Ganz ohne weiteres Zutun windet Sandra sich nun aus dem „Geburtskanal“, als ich Sandras „Antauchen“ verspüre, lasse ich meine Hände langsam entlang des Schultergürtels nach unten gleiten: Sandra ist „geboren“.
„Jetzt bin ich da!“
Nun wickle ich die Kleine sofort in eine Decke und lege sie Angelika in die Arme. Dort weint Sandra nochmals stark auf, die Mutter hält ihr „neugeborenes“ Baby fest, unterstützt das Weinen, hört ihrer kleinen Tochter zu, küsst sie auf Augen und Wangen, lässt ihre eigenen Tränen fließen und sagt: „Jetzt bin ich da!“ Ich sitze daneben und flüstere der Mutter zu, wie wunderbar sie ihr Kind hält, wie schön es sei, dass die kleine Sandra ihrer Mutter nun ihren ganzen Kummer „erzählen“ könne. Angelika weint zwar ebenfalls, hält ihre Tochter aber unbeirrt schützend, bergend und zugewandt im Arm.
Sandra sucht den Blick der Mutter
Nach etwa zehn Minuten beruhigt sich Sandra und sucht mit interessierten Augen und gelöstem Gesichtsausdruck den Blick der Mutter. Diese kann es kaum fassen: „Meine Sandra schaut mich an, zum ersten Mal!“ schluchzt sie glücklich und schaut ihrerseits voll Liebe auf ihre Tochter. So bleiben die beiden nun zwanzig Minuten sitzen, Angelika summt ihrer Kleinen leise Melodien vor, Sandra fallen langsam die Äuglein zu und sie schläft ein. Angelika sitzt gelöst mit ihrer Tochter im Arm im Sessel und strahlt. Nach einem abschließenden Gespräch und Hinweisen für das weitere Vorgehen zu Hause entlasse ich die beiden nach ca. dreieinhalbstündiger Sitzung. Mit zwei Büchern Jirina Prekops unter dem Arm („Hättest Du mich festgehalten“ und „Unruhige Kinder“) verlässt Angelika das Haus.
Als ich die beiden nach sieben Tagen, wie vereinbart, wiedersehe, kommt mir Angelika bereits im Wartezimmer fröhlich entgegen. Sie berichtet mir, dass seit unserem letzten Zusammentreffen eine sofortige und deutliche Entspannung eingetreten sei. Erstens sei Sandra von sich aus weit zufriedener gewesen, und wenn sie geschrien habe, habee sie, Angelika, ihr Schreien ganz anders auffassen und ihr mit Ruhe und Halt begegnen können. Sandra habe sich noch einige Male in der vergangenen Woche - gut festgehalten in ihrem Arm - ausgeweint, sei daraufhin zunehmend fröhlicher, interessierter und vor allem nicht mehr untröstlich. Der starke Speichelfluss sei auffallend zurückgegangen, berichtet Angelika, die Nächte seien ruhiger geworden, auch sie selbst finde nun wieder ausreichend Schlaf. Die Stimmung zu Hause, auch zwischen ihrem Mann und ihr, habe sich verbessert und sie könnten das Zusammensein mit ihrer Tochter nun so richtig genießen.
Bei einer weiteren
cranio-sacralen Untersuchung bemerke ich, daß die
Verspannungen des Babies sich deutlich verringert hatten. Neben einem weiteren
Abtasten der Schädelbasis und der Halswirbelsäule lege ich mein Augenmerk
u.a. nun auf die Schädelnähte (Suturen) und auf jene Knochen des
Schädels, die jenseits der Schädelbasis zur „Peripherie“ gehören,
Os Zycomaticus, Temporale, Maxilla, Mandibula etc., beobachte und stimuliere
den Cranialimpuls und „dehne“ die Wirbelsäule durch einen
Griff auf Hinterhauptschuppe und Kreuzbein. Im Anschluss hält Angelika
ihre Tochter in meinem Beisein nochmals fest. Angelika hat an Sicherheit und
Eindeutigkeit gewonnen, sie kann ihre Tochter gut beantworten und hat Freude
an der Nähe zu ihrem Kind. Wir wiederholen unser Zusammentreffen noch
ein weiteres Mal. Sandra entwickelt sich gut, auch das Stillen macht Mutter
und Kind nun Freude. Sandra trinkt ruhig und zügig und in regelmäßigen
Abständen. Angelika hat sich in die festhaltetherapeutische Literatur
gut eingelesen und erklärt von sich aus, dass sie, sobald ihre Tochter
etwas größer sei, gerne mit der ganzen Familie bindungstherapeutisch
arbeiten möchte.
Wir beschließen unsere Zusammenarbeit und vereinbaren, dass sie jederzeit
bei etwaigen Fragen wieder Kontakt aufnehmen könne.
Anhang 1:
Die cranio-sacrale Impulsregulation (auch cs-Osteopathie, cs-Therapie) ist
eine ganzheitliche Methode, die mit Hilfe von subtilen manuellen Techniken
die Selbstregulationskraft des Menschen aktiviert.
DieTechnik baut auf dem sogenannten Cranialimpuls, einer gleichförmigen
Bewegung, auf, die ihren Ursprung im Gehirn hat, auf die Schädelknochen
(Cranium) übertragen und über die Wirbelsäule zum Kreuzbein
(Sacrum) fortgeleitet wird.
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt am Knochengerüst (Osteum), indirekt werden
jedoch sämtliche andere Gewebe, Organe, Muskeln, Sehnen etc. erfasst.
Der Cranialimpuls beeinflusst Wachstum und Funktion der Wirbelsäule, gleichzeitig
aber auch die Ausreifung und den Zustand der Organe. Störungen in diesem
System (Pathos=Leiden, Krankheit) können sowohl Fehlhaltungen, oft verbunden
mit Schmerzen, als auch Krankheiten versursachen. Diese können von trainierten
Händen aufgespürt und durch Anregen der Selbstheilungskräfte
korrigiert werden.
Anhang 3:
Atlas (der erste Halswirbel, C1) und Axis (der zweite Halswirbel, C2), bilden
zusammen mit den umgebenden Weichteilen, wie Muskeln, Nerven, Faszien, Blutgefäßen
und der Schädelbasis, das Kopfgelenk. Dieser Bereich ist ein wichtiges
Reflexzentrum, welches auch die Spannung der Haltemuskulatur steuert. Es
bestehen wichtige Verbindungen zum Gehirn (Sehzentrum, Hörzentrum, Gleichgewichtsorgan),
die von diesem Reflexzentrum beeinflusst werden. Die Stellung des Kopfes
im Raum und auch zum Körper wird hier gesteuert.
Atlas und Axis unterscheiden sich im Bau von den übrigen Halswirbeln.
Der Atlas, der den Kopf trägt, besitzt keinen Wirbelkörper. Er ist
nach dem griechischen Gott Atlas, der der Sage nach die Säulen des Himmelsgewölbes
trug, benannt.
Anhang 4:
Ob eine echte Erkrankung vorliegt, kann mittels cranio-sacral-therapeutischer
Behandlung nicht festgestellt werden.
Dazu muss eine differentialdiagnostische Abklärung erfolgen, denn eine
Vielzahl unterschiedlicher Grunderkrankungen kann zu Veränderungen der
kindlichen Halssäulenwirbelregion mit funktionellen, neurologischen oder
kosmetischen Folgeproblemen führen.
Die im Rahmen der Vorstellung zunehmend häufiger geäußerte
Verdachtsdiagnose lautet „KISS-Syndrom“. Unabhängig von der
Frage,ob es kopfgelenksinduzierte Symmetriestörungen überhaupt gibt
oder ob hier gesunde Kinder zu behandlungsbedürftigen Patienten abgestempelt
werden, besteht die Notwendigkeit, sinnvoll die weiteren Schritte in der diagnostischen
Kaskade einleiten zu können. Die Bandbreite möglicher Grunderkrankungen
erstreckt sich von Traumafolgen über Entzündungen und Tumore bis
zu Fehlbildungen.
(Aus: „Die Differentialdiagnose des Schiefhalses im Kindesalter“ von
Dr. Gregor Schoenecker)
Grundlagen der kindlichen Entwicklung - Frühkindliche Reflexe
von Andrea Jaspert und Anja van Velzen
Herausgegeben von: „Kinder im Lot" e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft Neurophysiologie & Pädagogik
Beim Rauhen Hause 42 22111 Hamburg, 1997
Assoziiert mit „The Institute for Neuro-Physiological Psychology" (INPP)
4, Stanley Place Chester CH1 2LU England
Jedes Kind ist ein einzigartiges Wesen - trotzdem entwickelt es sich von Anfang an nach bestimmten vorgegebenen Mustern. Die meisten Eltern haben eine Vorstellung von der Entwicklung der kindlichen Organe wahrend der Schwangerschaft. Sie wissen, wann z.B. das Herz zu schlagen beginnt, das Geschlecht festgelegt ist usw.. Die Reifung des Zentralen Nervensystems (ZNS), das die Entwicklung und Funktion dieser Organe steuert, ist den Eltern weniger bekannt. Das ZNS besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark und ist die Zentrale für die Überwachung, Koordinierung und für das Dirigieren aller Lebens- und Körperfunktionen. Außerdem ist es das Bindeglied zwischen allen Körpersystemen, indem es Informationen von einem System zum anderen weiterleitet.
Auch das ZNS entwickelt sich vom Zeitpunkt der Empfängnis an nach einem vorgegebenen Plan. Die Abfolge dieses Reifungsprozesses ist trotz kultureller und individueller Unterschiede für alle gesunden Kinder gleich.
Die frühkindlichen Reflexe spielen im Reifungsprozeß des ZNS eine
zentrale Rolle. Sie entstehen zu festgelegten Zeitpunkten, entwickeln sich
bis zu ihrem Höhepunkt und werden, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt
haben, allmählich gehemmt und kontrolliert. Jede Störung dieser Abfolge
wirkt sich auf die Entstehung, Funktion und Unterdrückung des
nächsten Reflexes aus und beeinträchtigt somit die vollständige
Reifung des ZNS.
Die frühkindlichen Reflexe entwickeln sich im Uterus. Sie initiieren und treiben die Bewegungsentwicklung voran, unterstützen den Geburtsprozeß und bleiben in den ersten Lebensmonaten aktiv. Sie sorgen für das Überleben des Neugeborenen, indem sie es mit unwillkürlichen Reaktionen auf innere oder äußere Reize, z.B. Hunger, Kälte, Angst usw., ausstatten. Zu diesem Zeitpunkt kann es diese Bewegungen nicht kontrollieren. Nach einigen Wochen hat sich das kindliche Gehirn so weiterentwickelt, daß willkürliche Bewegungen möglich werden und die Reflexantworten mehr und mehr kontrolliert werden können.
Wenn die frühkindlichen Reflexe unterdrückt worden sind, bilden sich zunehmend die Halte- und Stellreflexe heraus, die lebenslang fortbestehen. Sie statten das Kind mit grundlegenden Fähigkeiten aus, wie z.B. den Kopf zu heben und ihn aufrecht zu halten, und ermöglichen nach und nach die Entwicklung immer komplexerer Fertigkeiten bis hin zur Beherrschung der Feinmotorik, Koordination, Lesen, Schreiben, Rechnen, usw.
Viele Eigenschaften sowie Stärken und Schwächen eines Kindes werden bereits durch seine Erbanlagen festgelegt. Der Schwangerschaftsverlauf, der Geburtsprozeß und die ersten Lebensmonate können geringfügige genetische Schwachstellen entweder kompensieren oder verstarken.
Da der Embryo bzw. Fötus vollständig durch die Mutter versorgt
wird, ist ihr Gesundheitszustand vor und während der Schwangerschaft
die Grundlage für seine Entwicklung. Der Aspekt der Ernährung ist
dabei ein Hauptfaktor, dessen Einfluß umfassend untersucht worden ist.
Studien in den USA (Pfeiffer, La Mola) zeigen z.B., daß die Versorgung
mit lebenswichtigen Vitaminen und Mineralstoffen nur Bruchteile unterhalb
des Bedarfs liegen muß, um die Reifung des ZNS zu beeinträchtigen.
Beischer und Mackay (1986) untersuchten die Folgen von Fehlbzw. Mangelernährung
für die Fortpflanzung. Ihrer Meinung nach wird durch mangelhafte Ernährung
das Risiko für Fehlgeburten, Blutarmut, Infektionen und ungenügende
Milchproduktion erhöht. Fehlbildungen, geringes Geburtsgewicht, Totgeburt,
Infektionen und neurologische Behinderungen lassen sich ebenfalls darauf
zurückführen. Neuere Studien betonen die wichtigen Zusammenhänge
zwischen Ernährung und optimalem Wachstum des Individuums. Schon geringfügige
Abweichungen von der normalen Entwicklung genügen, um die „neurologische
Uhr", die die Abfolge der neurophysiologischen Entwicklung steuert,
von Anfang an falsch zu stellen.
Die Auswirkungen von Streß während der Schwangerschaft sind noch umstritten. Nach Odent (1990) treten bei Angst und Streß Veränderungen im Stoffwechsel und im Hormonspiegel auf. Die Streßhormone Kortisol und Adrenalin werden vermehrt ausgeschüttet und beeinträchtigen empfindliche Stoffwechselvorgänge. Es gilt als bewiesen, daß sich ein hoher Adrenalinspiegel bei der Mutter auf den Embryo bzw. Fötus überträgt. Ein hoher Streßhormonspiegel im kindlichen System kann die Aktivität früher Reflexe beeinträchtigen.
5-7 Wochen nach der Empfängnis zeigt der Embryo die ersten erkennbaren
Reaktionen auf äußere Reize, die sogenannten Rückzugsreflexe.
Eine Stimulation der Mundregion erzeugt einen reflexbedingten Rückzug
des gesamten Organismus vom Reiz weg. Nach und nach
erweitert sich die Sensibilität auf andere Bereiche des Gesichts, auf
die Handflachen und Fußsohlen, bis schließlich der ganze Körper
berührungsempfindlich wird.
Die Mundregion, die zuallererst eine Reflexreaktion zeigte, bleibt auch wahrend
der ersten Lebenswochen hochsensibel. Such- und Saugreflexe ermöglichen
dem Neugeborenen die Nahrungssuche und -aufnähme und sind deshalb überlebenswichtig.
9-12 Wochen nach der Empfängnis haben sich die Rückzugsreflexe
etabliert und der Moro Reflex bildet sich heraus. Er dient dem Neugeborenen
als "Alarmanlage" und ist die früheste Form einer Flucht-
oder Kampf- Reaktion. Der Reflex kann durch eine plötzliche Lageverände-rung
des Kopfes nach hinten, ein lautes Geräusch, grelles Licht oder eine
plötzliche Bewegung im Gesichtsfeld des Kindes ausgelöst werden.
Die unwillkürliche Reaktion darauf ist eine reflexive Streckung der
Arme und Beine nach außen, ein Öffnen der Hände und ein schnelles,
tiefes Einatmen. Nach einem Moment der Erstarrung werden die Arme vor dem
Körper zusammengebracht und der Atem löst sich häufig in einem
Schrei. Moro (1918) bezeichnete dieses Bewegungsmuster auch als "Umklammerungs-
oder Greifreflex", in Anlehnung an die Reaktion von Affenbabys, die
sich bei Gefahr an das Fell der Mutter klammern. Die "Flucht- oder Kampf-
Reaktion aktiviert das sympati-sche Nervensystem: Der Blutdruck steigt, Herzschlag
und Atemfrequenz erhöhen sich, Adrenalin und Kortisol werden ausgeschüttet.
Alle Systeme schalten automatisch auf Notfall - unabhängig davon, ob
die Gefahr real ist oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt hat das Baby noch keine
Möglichkeit, die Quelle der Bedrohung zu erkennen und angemessen darauf
zu reagieren.
Abb. 1: Moro Reflex
Nach dem 3. Lebensmonat sollte die Moro-Reaktion durch den differenzierteren Erwachsenen - Schreckreflex abgelöst werden und dem Körpersystem nur noch in extrem gefährlichen Situationen zur Verfügung stehen. Wird der Moro Reflex nicht rechtzeitig gehemmt, bleibt das Kind für bestimmte äußere und innere Reize überempfindlich. Geräusche, Licht, schnelle Bewegungen und/ oder Lageveränderungen können es unter großen Streß setzen. Das sympatische Nervensystem wird standig beansprucht, um eine schnelle Reaktion auf die vermeintliche Bedrohung zu ermöglichen. Der Blutzuckerspiegel steigt an, was langfristig dazu führt, daß die Blutzuckerreserven schneller aufgebraucht sind. Diese körperlichen Streßreaktionen führen dazu, daß das Kind weniger Ausdauer und eine kürzere Konzentrationsspanne hat. Goddard (1996) führt aus, daß sich Kinder mit fortbestehendem Moro Reflex häufig in einem Zustand von Überangstlichkeit und übermäßiger Wachsamkeit befinden. Sie haben Schwierigkeiten damit, innere und äußere Reize zu filtern und einzuordnen und sind deshalb schnell überladen.
Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden Moro Reflex
Anna (10) ist ein hübsches, hochintelligentes Mädchen - sehr schlank, ernst und distanziert.
Anna hat seit Beginn ihrer Schulzeit erhebliche Probleme und
verweigert inzwischen jegliche Leistung. Ihre Familie leidet unter ihren taglichen
Wutausbrüchen
und ihrer Verschlossenheit. Die Mutter berichtet, daß Anna ein äußerst
unruhiges, forderndes und anstrengendes Baby gewesen sei. Schon damals hatte
sie regelmäßig Schreianfälle, bei denen sie sich nicht beruhigen
ließ, und die durch Körperkontakt und Streicheln eher heftiger
wurden. Nach diesen Ausbrüchen war Baby Anna wie ausgewechselt - entspannt,
freundlich, ausgeglichen. Aber an jedem neuen Tag baute sich wie ein Gewitter
die Spannung wieder auf, die gegen Abend entladen werden mußte. Die
Mutter lernte, sich auf Annas Auffälligkeiten einzustellen, und hatte
früh das Gefühl, die kleine Tochter auf besondere Weise schützen
zu müssen.
Anna schien überempfindlich zu sein gegenüber Geräuschen,
hellem Licht, Gerüchen, aber auch gegenüber jedem Wechsel, jeder
Veränderung in ihrer Umgebung und ihrem Tagesablauf Sie hatte Angst
vor Tieren, Gewitter, Dunkelheit, Wasser, entwickelte Abneigungen und Unverträglichkeiten
gegen bestimmte Lebensmittel, reagierte auf Streß mit Hautausschlägen.
Sie spielte ungern mit anderen Kindern und mied den Spielplatz.
Zuhause konnte sie sich ausdauernd und äußerst phantasievoll beschäftigen.
Sie sprach sehr früh und eloquent und machte auf "externe" Erwachsene
einen altklugen, etwas arroganten Eindruck. Die Schwierigkeiten begannen
mit Eintritt in den Kindergarten. Anna wollte sich nicht eingewöhnen,
die Erzieherinnen mußten das schreiende Kind festhalten, bis die Mutter
gegangen war. Anschließend setzte sie sich in eine Ecke auf den Boden
und beobachtete stumm und reglos das Geschehen. Nach zwei Wochen nahm die
Mutter sie aus dem Kindergarten heraus und stieß überall auf Unverständnis.
Man warf ihr überbehütendes Verhalten, Erziehungsfehler, mangelnde
Konsequenz vor.
Schon früh entwickelte Anna Ängste vor der Schule, obwohl sie bereits
mit fünf Jahren lesen und schreiben konnte. Ihrer sehr verständnisvollen
Lehrerin gelang es zunächst, sie behutsam einzugliedern. Dennoch scheiterte
Anna, weit sie einerseits intellektuell unterfordert und andererseits emotional
hoffnungslos überfordert war. Jeder einzelne Schulvormittag mit seiner
ständigen Geräuschkulisse, dem quirligen Gewusel der anderen Kinder,
dem Neonlicht, dem Wechsel von Lehrern und Unterrichtsmethoden erschöpfte
sie vollständig. Sie kann sich nur schwer konzentrieren, ermüdet
rasch, der Sporfun-terricht ängstigt sie, sie leidet unter dem Spott
der Klassenkameraden, ist schnell eingeschnappt und bricht häufig in
Tränen aus. Zuhause ist sie entweder tyrannisch und aggressiv oder unzugänglich
und deprimiert.
Der Tonische Labyrinth Reflex (TLR) erscheint um die 12. Schwangerschaftswoche.
Er ermöglicht dem Kind die erste Auseinandersetzung mit der Schwerkraft
und bildet mit seiner Verbindung zum vestibu-lären System (Gleichgewichtsorgan)
die Grundlage für das kindliche Gleichgewicht. Auch für die Geburt
spielt er eine wichtige Rolle. Über das Gleichgewichtsorgan, das als
einziges sensorisches System schon vor der Geburt ausgereift ist, erfahrt
der Fötus seine Lage im Raum, weiß also, wo der Weg "nach
draußen" ist. Indem es sich vor der Geburt so dreht, daß sein
Kopf im Becken der Mutter sitzt, schafft er die optimale Ausgangslage für
seine Geburt. So kann eine Beckenendoder Querlage schon ein Symptom für
Störungen im vestibulären System sein. Außerdem wirkt der
TLR unterstützend beim Eintritt in den Geburtskanal.
Der TLR manifestiert sich in zwei unterschiedlichen Haltungen: Der TLR vorwärts
wird ausgelöst, wenn der Kopf des Babys über die Mittellinie hinaus
nach vorne gebeugt wird. Als Reaktion beugen sich die Arme und Beine. Der
TLR rückwärts wird aktiviert, wenn sich der Kopf unterhalb der
Mittellinie nach hinten bewegt. Das Kind reagiert hierauf mit einer Streckung
der Arme und Beine. Die Präsenz des TLR hat in den ersten Lebenswochen
einen tonisie-renden Einfluß auf die Muskelspannung im ganzen Körper
und balanciert die Spannung zwischen Beuge- und Streckmuskeln aus. Zunächst
reagiert der Körper mit starker Beugung und Streckung. In dem Maße,
wie das Kind lernt, den Reflex zu kontrollieren, verfeinern sich seine Bewegungen.
Das Gleichgewicht und die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum werden
trainiert.
Der TLR vorwärts sollte bis zum 4. Lebensmonat überwunden und durch
die Kopfstellreflexe abgelöst werden.
Abb. 2: TLR vorwärts
Der TLR rückwärts wird ab dem 3. Lebensmonat in den
Landau Reflex, den Symmetrischen Tonischen Nackenreflex (STNR) und in die
Kopfstellreflexe umgewandelt. Dies ist ein,stufenweiser Prozeß, der
bis zum Ende des dritten Lebensjahres dauern kann. Wird der TLR nicht zum
richtigen Zeitpunkt gehemmt, so wird er die Gleichgewichtsentwicklung empfindlich
stören. Betroffene Kinder können Schwierigkeiten im Umgang mit
Raum, Zeit, Entfernung und Eigenwahrnehmung haben. Jede Bewegung des Kopfes
nach vorne oder hinten führt zu einer reflexiven Beugung oder Streckung
der Beinmuskulatur.
Schlaffe Kinder, die sich auffällig langsam und träge bewegen,
haben häufig einen fortbestehenden TLR vorwärts, sehr steife Kinder
mit unbeholfenen und manchmal abgehackten Bewegungen dagegen den TLR rückwärts.
Abb. 3: TLR rückwärts
Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden TLR
Tim (9) ist ein untersetzter Junge - gutmütig, freundlich und bedächtig.
Er bewegt sich auffallend langsam, spricht leise, undeutlich und etwas monoton.
In der Schule ist er sehr beliebt, aber leistungsschwach. Vor kurzer Zeit
erst wurde festgestellt, daß Tim so gut wie gar nicht lesen kann, dafür
scheint er eine phänomenale Begabung darin gehabt zu haben, ganze Passagen
nach dem Gehör auswendig zu lernen und anhand von Bildern und rudimentären
Lesefähigkeiten den Unterrichtsinhalten zu folgen. In Mathematik macht
er sogenannte "dumme" Fehler, er vertauscht Zahlen, schreibt Einer
und Hunderter nicht korrekt untereinander. Seine Lehrer sind oft ratlos,
wie sie ihn beurteilen sollen. Seine Eltern sind am Rande der Verzweiflung über
Tims "Schlampigkeit" Sein Zimmer ist ein Schlachtfeld ohne irgendein
erkennbares Ordnungssystem, er hält Zeiten und Absprachen nicht ein,
dauernd geht ihm etwas kaputt, er vergißt Hausaufgaben, verliert Schulbücher.
Als Baby war er schlaff und "bewegungsfaul" und bekam aufgrund seiner Hypotonie schon früh Krankengymnastik, die allerdings nur mit großem Aufwand und gegen seinen massiven Widerstand durchgeführt werden konnte. Er schlief sehr schlecht ein: 'Am besten auf dem Arm getragen und kräftig gerüttelt und geschüttelt oder im Kinderwagen in unendlichen Runden ums Viertel... ", erzählt die Mutter. Er krabbelte ungern und kurz und lernte spät laufen und sprechen. Tim war ständig in Unfälle aller Art verwickelt, er fiel häufig hin, war ungeschickt und tolpatschig, zerbrach Gegenstände und Spielzeug oder ließ sie fallen. Er ißt bis heute mit großem Appetit, kleckert und verschüttet Essen und Trinken jedoch wie ein Kleinkind. Wenn der Streß zunimmt, leidet er unter Schwindel und Übelkeit, und er ist regelmäßig reisekrank.
Mit seiner offenen, verträglichen Art hat Tim einen großen Freundeskreis, von seinen Gefühlen der Unsicherheit und Unzulänglichkeit wegen der mangelhaften Schulleistungen wissen nur seine Eltern.
Im zweiten Schwangerschaftsdrittel beginnt die Mutter, die Aktivität ihres Babys zu spüren. Einige dieser Bewegungen sind Reaktionen auf einen weiteren frühkindlichen Reflex - den Asymmetrischen Tonischen Nackenreflex (ATNR). Er erscheint um die 16. Schwangerschaftswoche und sollte bis zum 6. Lebensmonat gehemmt und kontrolliert sein.
Der ATNR wird durch eine Drehung des Kopfes zu einer Seite ausgelöst.
Die Gliedmaßen auf der Seite, zu der der Kopf gedreht wird, strecken
sich, wahrend sie sich auf der Hinterhauptseite beugen.
Abb. 4: ATNR
Im Uterus werden mit diesem Reaktionsmuster asymmetrische Bewegungen eingeübt. Dies hat wie der TLR einen tonisierenden Effekt auf die Muskulatur - jedoch nur auf einer Körperseite - und stimuliert das Gleichgewicht.
Der ATNR hat wie der TLR eine wichtige Funktion bei der Geburt und sollte zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung sein. Er hilft dem Kind, sich im Rhythmus der mütterlichen Wehen durch den Geburtskanal zu "schrauben". Hebammen wissen um die Wirkung des ATNR und nutzen ihn, indem sie das gerade geborene Köpfchen schnell von einer Seite zur anderen drehen und damit die Geburt der Schultern und des Rumpfes beschleunigen.
In den ersten sechs Lebensmonaten hat der ATNR folgende wichtige
Funktionen:
Die Kopfdrehung zur Seite und die reflexive Streckung des Armes kann als
erste Augen-Handkoordination gelten (DeMyer 1980). Sie erweitert das Blickfeld
des Babys ganz allmählich von einer Distanz von ca. 12-15 cm bei der
Geburt bis auf Armeslange und darüber hinaus. Zu diesem Zeitpunkt werden
Kopf, Augen und Arm als Einheit zur Seite bewegt. Erst wenn sich dieses Muster
um den 6. Lebensmonat aufzulösen beginnt, kann das Kind Gegenstande,
die es in Rückenlage neben sich erblickt, ergreifen und zur Körpermittellinie
bringen, um sie taktil und visuell zu untersuchen. Der ATNR erleichtert dem
Baby außerdem die Atmung in Bauchlage.
Bleibt der ATNR über den normalen Zeitpunkt hinaus bestehen, stört
er die nachfolgende Bewegungs- und Sinnesentwicklung. Das betroffene Kind
wird Schwierigkeiten haben, im Kreuzmuster auf dem Bauch zu kriechen und
auf Händen und Knien zu krabbeln. Beide Bewegungsmuster sind entscheidend
für die Verfeinerung der Augen-Handkoordination, des Gleichgewichts,
der flexiblen Einstellung der Augen von Nah- auf Fernsicht und umgekehrt.
Ein fortbestehender ATNR stört die Etablierung einer eindeutigen Seitigkeit
(Gesell & Arnes 1947). Die Versteifung bzw. Anspannung einer Körperseite
führt dazu, daß sich betroffene Kinder häufig unkoordiniert
und unbeholfen bewegen.
Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden ATNR
Benni (12) ist groß und kräftig. Er wirkt zurückhaltend und gehemmt Seine Mutter berichtet, daß er sehr unter seinen Schulschwierigkeiten leidet. Tests bei der Schulpsychologin ergaben eine gute Intelligenz, trotzdem berechtigen Ihn seine Zeugnisse nur zu einem Besuch der Hauptschule. "Er gibt sich solche Mühe", erzählt die Mutter. "Er sitzt stundenlang an seinen Hausaufgaben und hat dann oft keine Kraft mehr für Freundschaften oder Hobbys"
Benni isoliert sich zusehends. "Es ist, als ob er aufgegeben hat",
sagt ¦ die Mutter. Er hat regelmäßig Kopfschmerzen und
scheint trotz der Brille nicht gut zu sehen.
Als Benni klein war, hatte seine Mutter oft das Gefühl, er werde durch
irgend etwas daran gehindert, sich wie andere Babys zu bewegen und zu beschäftigen.
Er spielte viel weniger mit seinen Händen, griff nicht nach Spielzeug,
war angespannt und unzufrieden und weinte viel. Jeder neue Schritt in seiner
Bewegungsentwicklung war mit großem Streß verbunden: Benni krabbelte
spät und ungern, er ließ sich mit dem Laufenlernen viel Zeit und
lief dann sehr unbeholfen und steif, fiel oft und schmerzhaft hin, was seine
Unsicherheit verstärkte. Da er sehr schnell wuchs, hatte er schon in
der Grundschulzeit häufig Rücken und Knieschmerzen.
Im Sport ist er unsicher und gehemmt, fürchtet das Urteil der Kameraden. Er schreibt immer noch so langsam und mühsam wie ein Schulanfänger, wobei er den Stift stark aufdrückt und oft Schreibkrämpfe bekommt. Er macht zahlreiche Fehler, selbst beim Abschreiben, im Ausdruck ist er unbeholfen. Benni hat große Wissenstücken, er liest höchst ungern und nur, wenn es sich nicht vermeiden läßt.
Der Spinale Galant Reflex erscheint etwa in der 18. Schwangerschaftswoche.
Er laßt sich an den zappelnden Bewegungen erkennen,
die die Mutter in der 2. Hälfte der Schwangerschaft spürt. Wird
der Fötus im Bereich der Lendenwirbelsaule stimuliert, löst dieser
Reflex eine Hüftdrehung nach aufien von bis zu 45 Grad aus.
Abb. 5: Spinaler Galant Reflex
Über die Funktionen des Spinalen Galant Reflexes ist wenig bekannt. Man
geht davon aus, daß er eine aktive Rolle im Geburtsprozeß spielt.
Die Wehenkontraktionen der Mutter stimulieren die Beckenregion des Kindes
und lösen die Reflexreaktion aus. Indem es seine Hüften zur Seite
bewegt, schlangelt es sich durch den Geburtskanal hindurch. Der Spinale Galant
Reflex sollte zwischen dem 3.- 9. Lebensmonat unterdrückt werden. Kinder,
bei denen er darüberhinaus aktiv ist, bleiben im Lendenwirbelbereich äußerst
empfindlich. Oft lehnen sie deshalb enge Kleidung oder Gürtel ab, da
sie schon ausreichen können, um den Beckenbereich zu stimulieren und
die Reflexantwort hervorzurufen. Diese Kinder sind oft die "Zappelphilippe" im
Klassenraum, die motorisch unruhig sind und nie stillsitzen können.
Fallbeispiel für ein Kind mit einem persistierenden Spinalen
Galant Reflex
Roberto (8) ist ein kleiner zarter Junge, der angespannt und unruhig wirkt. Im Kontakt ist er ausweichend und leicht abgelenkt. Er ist der jüngste von mehreren Geschwistern. Seine Mutter, eine Frau an die Fünfzig, wirkt sehr erschöpft und berichtet, daß sie Roberto nicht mehr "im Griff" habe.
Schon als Baby war er außerordentlich lebhaft und quirlig, konnte nicht
allein sein, wollte immer herumgetragen und unterhalten werden. Er war einerseits
oft quengelig und launisch, anderseits bezauberte er die Familie mit seiner
Lebendigkeit und seinem Charme. Schwieriger wurde es, als er etwa zwei Jahre
alt war. Er aß und schlief schlecht, war ständig in Bewegung,
kletterte und krabbelte auf Möbel, Schränke, Mauern, Bäume
und Gerüste, war immer wieder verschwunden, konnte sich keine fünf
Minuten ruhig mit einem Spiel beschäftigen. Er haßte es, angezogen
zu werden, trug mit drei Jahren noch Windeln und näßte bis zum
Schuleintritt regelmäßig nachts ein. Obwohl er eine schnelle Auffassungsgabe
besitzt, ist Tim ein schlechter Schüler. Seine Aufgaben erledigt er
flüchtig und fehlerhaft oder gar nicht. Die größte Zumutung
ist es für ihn stillzusitzen - beim Essen, im Klassenraum, Zuhause am
Schreibtisch, bei längeren Autofahrten. Er ist ein guter Sportler, herausragend
in Leichtathletik, hat aber eine eher schwache Konstitution und wenig Ausdauer.
Bei seinen Schulkameraden gilt er als Klassenclown und Stimmungskanone, aber
auch als unzuverlässig und schwankend in seinen Gefühlen und Vorlieben.
Er braucht ständig "etwas Neues", sonst ist er schlecht gelaunt
und wird rast- und ruhelos.
Diese Einführung war ein erster Blick in die Welt frühkindlicher
Reflexe. Neben den hier beschriebenen Wirkungen können fortbestehende
Reflexe auch das schulische Lernen und das kindliche Verhalten beeinflussen.
Literaturhinweise:
Beischer, N.A., Mackay, E.V. (1986),
Obstetrics and the Newborn Baillere Tindall
DeMyer, W. (1980),
Technique of the Neurological Examination Mc Graw-Hill Book Company
Gesell, A. & Arnes, L. (1947),
The Development of Handedness
Journal of Genetic Psychology, 70, 1947, pp. 155-175
Goddard, S. (1996),
Developmental Milestones: A blueprint for survival aus: A teacher's Window
into the child's mind Eugene, Oregon, Fern Ridge Press
Weiterführende Informationen und Publikationen der Schriftenreihe Neurophysioiogie
und Pädagogik sind bei „Kinder im Lot" e.V. Bundesarbeitsgemeinschaft
Neurophysioiogie & Pädagogik erhältlich.„
Kinder im Lot" e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft Neuropsychoiogie und Pädagogik, Beim Rauhen
Hause 42, 22111 Hamburg, Tel./Fax: 040 / 651 53 24
Odent, M. (1990),
Water and Sexuality
Penguin Group, 27 Wrights Lane, London W8 5 TZ
Pfeiffer, C. C. & La Mola, S.
Zinc and Manganese in the Schizophrenias Journal of Orthomolecular Psychiatry
Vol. 1 2, No. 3
Eine Abhandlung über die Bedeutung der Bewegung und der frühkindlichen Reflexe für die kognitive Entwicklung
Bewegung und Lernen
von Rosemarie Haus
Vorgelegt von Rosemarie Haus ihm Rahmen der Ausbildung in Neurophysiologischer Entwicklungsförderung NDT/INPP bei Anja van Velzen 2006/2007.
Aufgrund des großen Umfanges dieser Arbeit (66 Seiten) haben wir sie hier zum Download als PDF bereitgestellt: Bewegen_und_Lernen.pdf
Menschliche Entwicklung in Bezug zu den psychosozialen Grundbedürfnissen
Handout zusammengefasst von Lin Burian aus Stauss, 2006, Rudolf, 2004, Grawe, 2004 und der Informationsschrift über die Erfahrungsorientierte Bindungsberatung EBT der Arbeitsgemeinschaft Bindungstherapie ABT, 2005
Die Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung ist die sichere Bindung eines Kindes an verlässliche und feinfühlige Bezugspersonen. Feinfühliges Verhalten (Attunement) heißt, die Signale des Kindes (des Säuglings) richtig deuten und adäquat handelnd beantworten zu können (z.B. Suche nach Körperkontakt und Nähe, Wärme, Schutz, Geborgenheit; Versorgen, Füttern, Ansprechen, Beruhigen, Tragen; emotionale, mimische und verbale Spiegelung).
Aus der Beziehungserfahrung, versorgt, beruhigt, beachtet und getröstet zu werden, entwickelt sich die Fähigkeit zur Selbstberuhigung, Selbstbeachtung und Selbstfürsorge; aus der Beziehungserfahrung des emotionalen Gehalten- und Verstandenwerdens entsteht die Fähigkeit zu introspektivem, emotionalem Selbstverständnis und der Fähigkeit, Körpererleben mit Emotionen zu verknüpfen.
Das explorative Verhalten des Kindes ist dem Bindungsverhalten (Schutzsuchen) komplementär zugeordnet. Fühlt das Kind sich sicher, wagt es sich von der Bezugsperson weg und will Personen oder Gegenstände in der Umgebung erkunden. Dieses Erkundungsverhalten bildet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Autonomie des Kindes. Die Verinnerlichung der verläßlichen Beziehungserfahrungen macht zunehmend von der realen Anwesenheit der Bezugsperson(en) unabhängiger und es entsteht Raum für selbstständiges, durch den Willen und Neugier motiviertes Handeln. Das durch eigenes Verhalten erfolgreiche Wirken im Sinne bestimmter, persönlicher Ziele führt zu positiven Selbstwirksamkeitserwartungen. Korrespondierend zu den wachsenden Möglichkeiten erlernt das Kind, die Perspektive anderer zu übernehmen bzw. sie zu verstehen.
Werden die Nähe-, Bindungs- und Autonomiebedürfnisse von den Bezugspersonen liebevoll und angemessen unterstützt und anerkennend gespiegelt, entwickelt sich ein gesundes Selbstverständnis (dieses kann es erst geben, wenn sich bereits ein bewußtes Selbst entwickelt hat) bezüglich der eigenen Kompetenz, Liebenswertheit, Würde und Selbstachtung (Fähigkeit zur Selbstwertregulierung – selbst bei Misserfolgen werden Möglichkeiten gefunden, das grundlegend positive Selbstwertgefühl wiederzuerlangen, Unterschiede zwischen eigenen und fremden Wünschen und Wertsetzungen können ohne Gekränktheit wahrgenommen werden).
Nachdem in den vorausgegangenen Reifungsschritten zu anderen sichere Bindungen aufgenommen und auf dieser Grundlage das Autonomie- und Selbstwertsystem entwickelt wurde, ist der nächste basale Schritt der Aufbau des Identitätssystems. Die kognitive, emotionale und soziale Reife ermöglicht es, in einem sozialen Netzwerk der Generationen, Geschlechter und sozialen Zuordnungen eine eindeutige Positionierung der eigenen Person vorzunehmen. Das hat die Eindeutigkeit und Konstanz der eigenen Rolle und damit der Identität zur Folge. Aus dieser Sicherheit heraus weiß das Kind (4. bis 6. Lebensjahr), aus welcher Position heraus es seine Beziehungen gestalten kann (auch das heranwachsende Kind muss sich in ein bereits bestehendes soziales System integrieren). Es entsteht ein realistisches Selbst- und lebendiges Körperbild. Die Fähigkeit, sich in der Welt zu orientieren, nimmt zu.
Nach dem erfolgreichen Durchlaufen der
vorangegangenen Entwicklungs- und Reifeschritte kann nun ein Wertesystem und
ein spirituelles System aufgebaut werden. Es kommt
zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Wertewelt und
zum Versuch, eigene Wertepositionen zu definieren, die handlungsweisend für
das persönliche Engagement und den Einsatz der eigenen Kräfte werden. Über
einen persönlichen Zugang zur Spiritualität beginnt die Suche nach
Beantwortung der existenziellen Fragen des Lebens in Bezug auf Geburt, Leben,
Liebe, Leiden und Tod.
Viele Menschen haben in ihrer religiösen oder spirituellen Sozialisation
traumatische Erfahrungen gemacht. Nichtsdestotrotz stellt positiv erfahrene
Spiritualität eine große Ressource zur Bewältigung von körperlichen
oder seelischen Problemen dar (in den letzten dreißig Jahren wurde in
den USA in mehr als 200 Studien nachgewiesen, dass konsequent gläubige
Menschen gesünder als Atheisten sind. Sie haben z.B. ein um 40% geringeres
Bluthochdruckrisiko und weisen mit doppelter Wahrscheinlichkeit ein starkes
Immunsystem auf). Spiritualität drückt den eigenen Lebensstil aus,
der von der Erfahrung einer persönlichen Beziehung zu einer außerhalb
der eigenen Existenz befindlichen höheren Wirklichkeit geprägt ist.
Eine Anbindung an eine höhere Ordnung befähigt uns, starre Regeln
durch Mitgefühl und Verantwortung zu lockern, aber auch zu erkennen, wo
Mitgefühl und Verständnis ihre Grenzen haben. Diesem Konzept liegt
ein konfessionsneutraler Transzendenzbegriff zugrunde.
Die Sinngebungsfähigkeit bewirkt eine innere Motivation zur sinnvollen Lebensgestaltung. Ein Leben wird als sinnvoll empfunden, wenn man für etwas lebt, an das man glaubt. Die motivationalen Impulse der Sinngebung kommen aus dem Inneren des gesunden Menschen, das Ziel aber ist außerhalb von ihm. Frankl nennt dies „Selbsttranszendenz“. Dieser Begriff kennzeichnet die Überzeugung, dass wir auf dieser Ebene tief in uns die Notwendigkeit verspüren, unsere Kraft und unser Leben an etwas auszurichten, das außerhalb von uns selbst liegt.
Die organismische Anwort auf die Erfüllung der oben beschriebenen Grundbedürfnisse ist subjektiv in Form von Wohlbehagen und Lebenslust erlebbar. Sie sind nicht nur Ziel, sondern auch Ergebnis eines verantwortungsvollen Umgangs mit den eigenen Grundbedürfnissen und deren anderer. Wie bei allen beschriebenen Grundbedürfnissen wirkt sich eine Verletzung oder mangelhafte Befriedigung eines einzelnen Bedürfnisses sowohl auf die weitere Entwicklung des Systems (Entwicklung des Systems der Nähe und Kommunikation-erstes Vierteljahr, Entwicklung des Bindungssystems-erstes bis zweites Lebensjahr, Entwicklung des Autonomiesystems-zweites bis viertes Lebensjahr, Entwicklung des Identitätssystems-viertes bis sechstes Lebensjahr) wie auch auf die Fähigkeit zur Bedürfnisbefriedigung aus, so auch im Bereich der Lebenslust und körperlicher Integrität.
Konklusion:
Jede Beeinträchtigung des frühen Bindungsaufbaues und der sicheren
Bindungserfahrung wirkt sich unmittelbar und nachhaltig auf die lebenslange
Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung aus (Bowlby sprach von „inner
working models“ -Erwartungen, die ein Mensch an die Verlässlichkeit
von Bezugspersonen entwickelt hat und auf andere, aktuelle Beziehungen überträgt)
und korreliert mit subjektiv erfahrenem Wohlbefinden, sowie mit körperlicher
und mentaler Gesundheit (biologisch-neurophysiologische Determinantien, siehe
u.a. Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, 2006, menschliches Suchtverhalten
und Motivationssysteme, siehe ebenda).
Aus der Befriedigung des Bedürfnisses nach einer stabilen Beziehungsbasis,
die Geborgenheit und Sicherheit gewährleistet, erwächst in einem
komplexen Entwicklungsprozeß die Bereitschaft, Beziehungsverpflichtungen
und Beziehungsverantwortung zu übernehmen sowie die Fähigkeit, langfristige
Beziehungen einzugehen und soziale Verantwortung zu übernehmen.
Im Erwachsenenleben
differenziert und erweitert sich die Kunst, Grundbedürfnisse
zu befriedigen, immer mehr. In typischen Schwellensituationen (z.B. Verlassen
des Elternhauses, Berufseintritt, Familiengründung) wird diese Fähigkeit
modifiziert und an die jeweilige Situation angepasst.
Was aber trotz aller Entwicklungen im Laufe des Lebens konstant erhalten bleibt,
ist die Notwendigkeit, die psychosozialen Grundbedürfnisse zu kennen und
sie in ihrer Gesamtbilanz zu befriedigen. Gelingt diese Anpassung nicht, werden
Grundkonflikte erlebbar, die eine Aufforderung zur angemessenen Bewältigung
der jeweiligen Lebensituation darstellen können. Damit ist die Kenntnis
und die Auseinandersetzung mit den psychosozialen Grundbedürfnissen und
den daraus entstehenden Konflikten unter unterschiedlichen Lebensbedingungen
nicht nur ein lebenslanger Prozeß, sondern auch ein hilfreiches Mittel,
verantwortlich und gesundheitsfördernd mit sich selbst und anderen umzugehen.
Schriftliche Arbeit (Zusammenfassung)
Medizinethik I: Embryonenforschung
von Lin Burian
Aufgrund des Umfanges dieser Arbeit (29 Seiten) haben wir sie hier zum Download als PDF bereitgestellt: Medizinehtik.pdf